: Stefan Heym
: Ahasver Stefan-Heym-Werkausgabe
: C. Bertelsmann
: 9783641278229
: Stefan-Heym-Werkausgabe, Romane
: 1
: CHF 10.80
:
: Erzählende Literatur
: German
: 272
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Es ist die Legende des 'ewigen Juden': Weil er Jesus auf dem Weg zur Kreuzigungsstätte nicht vor seiner Haustür ruhen lässt, wird Ahasver, der Schuster von Jerusalem, verflucht, bis zu Jesus' Wiederkunft rastlos auf Erden zu wandern. Stefan Heym, einer der herausragendsten Schriftsteller der ehemaligen DDR, erzählt den Mythos neu: Bei ihm ist Ahasver ein gestürzter Engel, der die Hoffnung auf Befreiung der geknechteten Menschheit nie aufgibt und in immer neuer Gestalt für eine bessere Welt kämpft. Ein Roman voll sinnlicher Wucht, zwischen Legende, Lutherzeit und einem brillant karikierten Politleben der DDR.

Stefan Heym, 1913 in Chemnitz geboren, emigrierte, als Hitler an die Macht kam. In seiner Exilheimat New York schrieb er seine ersten Romane. In den 50er Jahren, gefährdet durch die Intellektuellenverfolgung des Senators McCarthy, kehrte er nach Europa zurück und fand Zuflucht, aber auch neue Schwierigkeiten in der DDR. Als Romancier und streitbarer Publizist wurde er vielfach ausgezeichnet und international bekannt und gilt heute als einer der bedeutenden Autoren der deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts. Er starb 2001.

Zweites Kapitel


Worin der junge Eitzen im Schwanen zu Leipzig einiges über die Zeitläufte erfährt und einen Reisekameraden erhält, der ihm fürs Leben bleibt

’s ist doch wohl was Übernatürliches an der Begegnung von zwei Menschen, wo der eine gleich weiß, dies ist für’s Leben, oder doch einen beträchtlichen Teil davon, und auch der andere spürt, da ist einer gekommen, der von Bedeutung für ihn sein wird.

Dabei könnt keiner rechtens behaupten, der junge Herr Paulus von Eitzen, der auf dem Weg nach Wittenberg ist, in Leipzig aber Station gemacht hat imSchwanen, war so ein Sensibler oder hätte gar das zweite Gesicht. Eher im Gegenteil. Trotzdem er noch Flaum trägt auf seinen Wangen, hat er schon was Vertrocknetes an sich, so als hätte er nie von den bunten Dingen geträumt, die unser einer gemeinhin im Kopfe hat, wäre er noch in den Jahren. Daher sind’s auch nicht etwa hochfliegende Gedanken oder die schönen Bilder der Phantasie, die er beim Eintritt des Fremden in die Gaststube unterbricht, sondern nüchterne Berechnungen, wieviel etwa ihm zufallen würde von der Erbtante in Augsburg, welcher er im Auftrag seines Hamburger Vaters, des Kaufmanns Reinhard von Eitzen, Tuche und Wolle, einen Besuch abgestattet hat.

Der Fremde hat sich umgeblickt in dem überhitzten Raum, in dem der Geruch von Schweiß und Knofel über den Köpfen hängt und der Lärm der Gäste ein gleichförmiges Geräusch bildet ähnlich dem des Wassers, das aus großer Höhe übers Gestein herabstürzt, nur dem Ohr weniger angenehm. Nun kommt er auf den jungen Herrn von Eitzen zugehinkt und sagt: »Gott zum Gruß, Herr Studiosus, ist’s Euch wohl recht«, und zieht einen Schemel heran und setzt sich neben ihn.

Der von Eitzen aber, obzwar mißtrauisch und sofort nach seinem Säckel schielend, das er innen am Leibgurt trägt, fühlt schon, daß er nicht so leicht loskommen wird von diesem da, und rückt ein wenig beiseite und sagt, auch weil der ihn sofort als Studiosus angeredet: »Kenn ich Euch nicht?«

»Ich hab so ein Gesicht«, sagt der Fremde, »da glauben die Menschen, sie hätten mich irgendwo schon gesehen, ein Allerweltsgesicht, mit einer Nase drin und einem Mund voll Zähne, nicht sämtlich gut, und Augen und Ohren, was so dazugehört, und einem schwarzen Bärtchen.« Und bläht, während er spricht, die Nüstern und verzieht die Lippen, so daß die Zähne sich zeigen, davon ein oder zwei schwärzlich verfärbt, und blinkt mit den Augen und zupft sich erst die Ohren, dann das Bärtchen, und lacht, doch ohne Freude darin, ein Lachen, das ihm eigen.

Der junge Eitzen verfolgt das lebhafte Mienenspiel des anderen, sieht aber auch dessen merkwürdig verkrümmten Rücken und verformten Fuß und denkt, nein, ich kann ihn doch wohl nicht kennen, denn an so einen erinnert man sich, der haftet im Gedächtnis; dennoch bleibt da ein Rest von dem, was sie in Frankreichdéjà vu nennen, und er ist seltsam beunruhigt, besonders da der Fremde nun sagt: »Ich seh, Ihr seid auf dem Weg nach Wittenberg, das kommt mir gut zupaß, da will ich auch hin.«

»Woher wißt Ihr?« fragt Eitzen. »Es kommen ihrer viel durch Leipzig und steigen imSchwanen