Prolog
Die Suche nach Stille
Das Tal
Stille, Schnee und Alleinsein haben von mir Besitz ergriffen und wollen mich nicht mehr loslassen. Ich bin besessen von den Bergen, der Kälte und dem Eis. Der Winter hat mit harter Hand meine Seele fest im Griff. Es ist wie eine Krankheit, eine Art spiritueller Besessenheit, das Bergfieber. Es gibt kein Entkommen. Ich sitze hier für die nächste Zeit fest, gefangen in einem kaum bekannten tibetisch-buddhistischen Hochtal, eingekeilt zwischen der Hauptkette des Himalaja und dem Karakorum.
Einer nach dem anderen haben sich die Hochpässe hinter mir geschlossen, und sie werden erst in sechs oder sieben Monaten wieder begehbar sein. Die einheimische Bevölkerung, die Zanskari, verbringen ihr halbes Leben um kleine Öfen geschart, in denen sie Yak-Dung und Tamariskenholz verheizen, um sich warm zu halten. Es ist dunkel in ihren Häusern. Wie sie, umgeben von diesen Unmengen an Schnee und Eis, überleben und über den Winter kommen, ist nach wie vor ein Rätsel. Der einzige andere Mensch aus einer westlichen Kultur, der einmal einen ganzen Winter in Zanskar verbracht hat, war ein exzentrischer ungarischer Sprachwissenschaftler namens Alexander Csoma de Kőrös. Doch das ist gut einhundertfünfzig Jahre her, und er hat keine Aufzeichnungen über den Winter dort hinterlassen.
Stellen Sie sich vor, Ihre Vorfahren lebten schon seit tausend Jahren oder mehr in den Bergen. Welche Auswirkung würde das auf Ihren Geist, auf Ihr Denken haben, auf Ihr Bewusstsein und Ihre Art, die Dinge zu sehen? Stellen Sie sich vor, wie viel Schweigen Ihre Vorfahren in dieser Zeit aufgesogen und verinnerlicht haben. Die Menschen von Zanskar versuchen, die Lehren der Stille zu bewahren, die zwischen den Worten aufkeimt. Diese Lehren, mitunter sehr formal, aber auch sehr subtil, lassen den Raum anklingen, der sich auftut, wenn Worte ihr Ende erreichen. Und dann ist da auch noch das Schweigen des Dzogchen und der Berge, das nicht gelehrt, sondern nur vom Lehrer auf den Schüler übertragen werden kann. Die Sprache der buddhistischen Lehren, die Sprache des Mitgefühls durchzieht das Alltagsleben der Zanskari wie ein unsichtbarer Faden.
Nach Süden hin liegt der pulsierende, farbenfrohe indische Subkontinent. Nach Norden die trockenen Sandwüsten Zentralasiens. Im Westen Kaschmir, die schartige Grenzlinie zu Pakistan. Im Osten erhebt sich endlos das einsame, von Nomaden bevölkerte tibetische Hochland. Ein Land der Meditation, der Mönchsdebatten und der monastischen Gelehrsamkeit. Selbst für die Verhältnisse im Himalaja ist Zanskar ein weltabgeschiedener Ort.
Tiefes Schweigen, tiefer Schnee und tiefe Einsamkeit. Das sind die inneren Koordinaten, die mir am meisten bedeuten. Es gab mehrere Gründe, warum ich diese Abgeschiedenheit, diesen Rückzug von der Welt gesucht habe. Absoluter Frieden und Ruhe. Abgeschiedenheit ist ein Geisteszustand – entweder hat man ihn, oder man zieht los und sucht ihn. Doch wenn man diese besondere Form von Einsamkeit einmal gefunden und von ihren Früchten gekostet hat, dann kehrt man immer wieder dorthin zurück, um sich mit der Wildheit und der blanken Leere der Berge zu verbinden. Die Sehnsucht nach diesen Bergen ist vielleicht ein zentraler Teil des Menschseins.
Die Vorstellung, den zugefrorenen Zanskar abwärtszureisen, lockte mich mindestens ebenso sehr wie die Stille des Winters. Schlafen unter freiem Himmel, in Höhlen, im Schnee – sich irgendwie durchschlagen. Ein falscher Tritt, ein Sprung im Eis, ein fataler Aus