: Christoph Peters
: Tage in Tokio
: Luchterhand Literaturverlag
: 9783641273934
: 1
: CHF 11.00
:
: Erzählende Literatur
: German
: 256
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Seit 35 Jahren beschäftigt sich Christoph Peters mit Japan. Er hat Romane über Japan geschrieben, sich in der traditionellen Teezeremonie ausgebildet, sammelt japanische Keramiken. Doch in Japan ist er nie gewesen. Die erste Reise nach Tokio muss also zum Abgleich werden zwischen Phantasie und Realität. Christoph Peters streift durch Metro und Seitenstraßen, Sushibars und Museen, besucht Tempelanlagen und einen Boxkampf. Und er ist ein eminent genauer Beobachter: Aus den Blicken der Menschen in der U-Bahn, aus den Regeln der Konversation, aus dem Nuancenreichtum in der Glasur einer Teeschale entsteht das Panorama einer ganzen Kultur. 'Tage in Tokio' ist die Liebeserklärung an ein faszinierendes und widersprüchliches Land, das mit jedem Versuch, es zu verstehen, auch etwas über uns erzählt.

Christoph Peters wurde 1966 in Kalkar geboren. Er ist Autor zahlreicher Romane und Erzählungsbände und wurde für seine Bücher vielfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Wolfgang-Koeppen-Preis (2018), dem Thomas-Valentin-Literaturprei der Stadt Lippstadt (2021) sowie dem Niederrheinischen Literaturpreis (1999 und 2022). Christoph Peters lebt heute in Berlin. Zuletzt erschienen von ihm bei Luchterhand die ersten beiden Teile einer an Wolfgang Koeppen angelehnten Trilogie: 'Der Sandkasten' (2022) und 'Krähen im Park' (2023).

Ich sage, weil es in der Welt, aus der ich gerade gekommen bin, in dieser Situation peinlich wäre, einfach zu schweigen, wie großartig es ist, endlich hier zu sein, dass ich auf so viele Dinge neugierig bin, keineswegs nur auf Museen, Kunstschätze, Tempel und Gärten, genauso auf das Japan der Gegenwart, Wolkenkratzer, Einkaufszentren, die Metro, auf die berühmten Combini, über die ich erst neulich einen interessanten Roman –Die Ladenhüterin – gelesen habe, auf das Essen und natürlich auch auf die Arbeit mit den Studenten.

Meine Stimme klingt unangemessen laut, das, was ich sage, erscheint mir selbst konfus. Es kann an der Müdigkeit liegen, obwohl ich mich gar nicht müde fühle, trotz der Nacht im Flugzeug. Ich weiß nicht, ob ich überhaupt geschlafen habe, erinnere mich an einen ausgedehnten Zwischenzustand mit geschlossenen Augen, dazwischen ein halb finnisches, halb japanisches Bordmenü, Rindergulasch und kalte Udon-Nudeln; später stumme Schnipsel eurasischer Fantasy-Action auf dem Bildschirm des Sitznachbarn.

»Der Boxkampf wird bestimmt auch interessant«, sagt Kumekawa-san.

»Darauf freue ich mich natürlich besonders. Es ist mein erster Kampf, live am Ring.«

Neben seiner Beschäftigung mit deutscher Gegenwartsliteratur ist Kumekawa-san ein bekannter Experte für Boxsport, außerdem Spezialist für Godzilla-Filme, Jazzenthusiast und Vorsitzender der japanischen Goethe-Gesellschaft. Vor gut einem Jahr, an unserem ersten gemeinsamen Abend in Berlin, haben wir länger über Ali, Foreman, Frazier und die aktuell besten Schwergewichtler Deontay Wilder, Tyson Fury, Luis Ortiz und Anthony Joshua gesprochen als über Kunst oder Literatur. Es ist ihm gelungen, Karten für den – aus japanischer Sicht – bislang wichtigsten Kampf des Jahrhunderts zu besorgen, der zugleich das Finale derWorld Boxing Super Series ist: Naoya Inoue gegen Nonito Donaire.

Der Zug fährt ein. Von außen ähnelt er einemICE oderTGV. Innen herrschen gedeckte Farben, mattes Silber, fahles Grün, Brauntöne. Der Sitz ist bequem, aber nicht so, dass man nie wieder aufstehen möchte – ein gewöhnlicher Sitz in einem modernen Hochgeschwindigkeitszug.

Nachdem er sich in Bewegung gesetzt hat, folgt eine längere Ansage, erst Japanisch, dann Englisch. Ich frage mich, welchen Sinn der Satz »All seats are reserved« angesichts der Tatsache hat, dass mehr als die Hälfte der Plätze unbesetzt sind. Zum Schluss Chinesisch. Offenbar kommen so viele Touristen aus China, dass es den Behörden angeraten erscheint, sie direkt anzusprechen, damit sie keine schwerwiegenden Fehler machen und nicht verlorengehen. Ich muss die jüngsten politischen Entwicklungen in Ostasien verpasst oder falsch gedeutet haben, denn bislang war ich wie selbstverständlich davon ausgegangen, dass die Beziehungen zwischen beiden Ländern angespannt sind, wegen konkurrierender Besitzansprüche auf diverse Inseln im Chinesischen Meer, der Unterstützung Chinas für Nordkorea, nicht zuletzt infolge der schwach ausgeprägten Bereitschaft der Japaner, sich kritisch mit der eigenen Rolle als Kolonialmacht und Kriegspartei auf dem chinesischen Festland während der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts auseinanderzusetzen.

An den Wänden des Tunnels blitzen in schnellem Rhythmus Neonleuchten auf, unterbrochen von kurzen Ausblicken auf dicht bewachsene Hügel, schmale Waldschluchten, von Efeu überwuchertes Buschwerk.