Kapitel 2 • Schein und Sein
In der Nähe von Hamburg,
Freitag, 30. Juli
Die beiden fahren nach Berchtesgaden, um ihre silberne Hochzeit zu feiern. Obwohl … feiern? So ganz dankbar, glücklich und gefühlig?Schatzibär, du bist das größte Geschenk meines Lebens? Oder:Ohne dich bin ich nur ein tönendes Erz, eine klingende Schelle, ein Nichts.
Nein, nimmt man derlei Gefühlsduselei als Maßstab, kann vonFeiern nicht die Rede sein. Sagen wir besser: Sie begehen ihre Silberhochzeit, wickeln sie ab, erledigen sie. Wie den TÜV beim Auto. Den feiert man schließlich auch nicht und ist nur froh, wenn man ihn hinter sich hat. Denn um die Ehe der beiden steht es schon lange nicht mehr gut. Sie ist geprägt von Misstrauen. Von Enttäuschung. Von leeren Routinen.
Warum dann aber dieses ganze Brimborium mit Wegfahren, teurem Hotel, Watzmannbesteigung? Ganz einfach:Wat mutt, dat mutt.
Weil es die Gesellschaft, die Tradition, das Außenbild so erfordern. Wenn sie nach Lübeck zurückkommen, werden sie in ihren Kreisen eine Menge zu erzählen haben. Man ist weggefahren, hat etwas Exklusives unternommen, und für das ihnen servierte Essen hat der Koch natürlich vier von drei möglichen Michelin-Sternen eingeheimst. Eine Ehe wie eine Filmkulisse im Studio Babelsberg. Nicht echt, alles nur gestellt, zum Vortäuschen und Blenden. Aber immerhin: Sie sind ihre eigenen Kulissenschieber.
Doch hinter der Fassade brodelt es. Jederzeit kann der Kessel explodieren. Oder ein Ventil geht hoch, und der Druck entweicht in Form eines heftigen Streits. Ein Gedanke treibt sie beide um:Hätten wir sie nur schon hinter uns, die Silberhochzeit!
Für die kommenden sieben Tage haben sie sich ein Ziel gesetzt. Auch ein Programm gibt es. Die gemeinsame Zeit ist durchgetaktet. Denn nichts ist zwischen unharmonischen Eheleuten schlimmer als stumme Stunden, Leerlauf und ungewollte Zweisamkeit. Eigentlich wollten sie ein befreundetes Paar mitnehmen. Dann wäre alles erträglicher. Die beiden Frauen. Die beiden Männer. Man kann sich als Paar aus dem Weg gehen. Aber niemand wollte sie begleiten.Ach, sehr nett eure Einladung, aber wisst ihr, bei so einer intimen Feier, da wollen wir euch nicht stören, mussten sie sich anhören. Auch die Kinder können erst am Tag der Silberhochzeit nachkommen. Darum also ein durchgetaktetes Programm wie im Aktivurlaub. Sie, die Planerin, hat es zusammengestellt und den Zettel auf seinen Schreibtisch im Haus am Brink gelegt:
Montag | Aufstieg zum Watzmannhaus und Übernachtung dort |
Dienstag | Aufstieg zum Hocheck und Überschreiten des Watzmanngrats, Abstieg |