Einleitung
»Mach schon, stell die Frage einfach.« Sokrates saß schräg hinter mir. Er trug knallbunte Sneaker und ein Batman-Cape.
»Los jetzt, du hast einen guten Grund dafür.«
Ich blinzelte. »Sokrates, ich weiß, dass deine Zeit etwa 2500 Jahre zurückliegt. Vielleicht ist dir ja einiges entgangen, aber in der heutigen Gesellschaft ist das keine Frage, die man einfach mal so stellt.«
Das ist schon viele Jahre her. Ich nahm an einem Kurs »Praktische Philosophie« teil. Es war meine erste Begegnung mit diesem Konzept. Ich war auf der Suche nach etwas Theorie, Wissen und Erfahrung zum Führen philosophischer Gespräche und hoffte, hier klar denken zu lernen. Als Theatermacherin suchte ich nach Werkzeugen, um mir über meinen eigenen Denkprozess beim Gestalten von Aufführungen klarer zu werden.Und ich wollte in meinen Schauspielen gezieltere Fragen stellen können. Also ging ich hin: zum Kurs »Praktische Philosophie«.
In der Mittagspause des ersten Kurstages landete ich an einem Tisch mit fünf anderen Teilnehmern:einem Mann und vier Frauen. Das Thema an diesem Tisch: Kinder. Man fragte einander rundum: Hast du Kinder? Ja, einen Sohn. Und du? Ja, zwei Töchter, acht und zehn Jahre alt. Jedem wurden noch einige Nachfragen gestellt: Wie alt sind sie? Gehen sie schon zur Schule? Ach ja, hat dein Kind auch schon ein eigenes iPad?
Ich kannte diese Art von Gesprächen mittlerweile. Ich war Ende zwanzig und hatte schon einige Gespräche dieser Art hinter mir. Sobald jemand in einem solchen Gespräch sagt: Nein, ich habe keine Kinder, entsteht oft ein betretenes Schweigen, oder jemand stellt schnell eine Frage an den Nächsten in der Runde. Das verwundert mich immer. Menschen mit Kindern sprechen gerne davon, wie es ist, Kinder zu haben, aber die Geschichten von Kinderlosen wollen sie am liebsten nicht hören. Schon damals fand ich: Auch sie haben eine Geschichte. Warum entscheiden wir, indem wir ihnenkeine Fragen stellen, dass es keinen Raum gibt, sie diese erzählen zu lassen?
Jetzt war ich an der Reihe, und ich sagte, dass ich keine Kinder hätte. Ich holte kurz Luft, um noch ein paar Sätze hinzuzufügen. Damals arbeitete ich viel mit Kindern in Theaterkursen, die ich in diversen Schulen gab. Ich war voller toller Kindergeschichten, von denen ich gerne ein paar erzählt hätte.
Ich war auch neugierig auf die Argumente und Erfahrungen der anderen, und ich wollte auch gerne über meine Zweifel darüber reden, Kinder zu bekommen oder nicht. Woher weiß man, wollte ich fragen, ob man ein Kind will oder nicht? Das ist so eine große Entscheidung; und na ja, wohl so etwas Ähnliches wie ein Tattoo auf der Stirn: ziemlich endgültig, könnte man sagen. Das muss man sich schon gut überlegen. Und wie seid ihr eigentlich zu dieser Entscheidung gekommen?
Doch bevor ich weitersprechen konnte, wurde die »Und-du?-Frage« schnell der nächsten Teilnehmerin gestellt. Alle schauten neugierig auf meine Nachbarin, die nun begeistert von ihrer siebenjährigen Tochter erzählte. Mein Blick wurde sorgfältig gemieden: Offenbar gehörte meine Geschichte nicht in dieses Gespräch – was ich merkwürdig fand. Wir waren mehr oder weniger im gleichen Alter und hatten auf jeden Fall das gleiche Interesse, da wir uns ja alle für den Kurs »Praktische Philosophie« angemeldet hatten. Ein idealer Kontext für vertiefende Gespräche in einem Umfeld, in dem man sich nicht von konventionellen Normen und Gesprächsgewohnheiten hemmen lassen musste.
Eine Art Empörung kochte in mir hoch: Wieso ein Gespräch über Kinder beginnen und es nur mit einem ausgewählten Grüppchen führen? Wieso wird stillschweigend entschieden, wessen Geschichten Raum gegeben und wessen Geschic