: Stefan Heym
: Die Augen der Vernunft - Stefan-Heym-Werkausgabe - Vom Autor revidierte Übersetzung
: C. Bertelsmann
: 9783641278427
: Stefan-Heym-Werkausgabe, Romane
: 1
: CHF 14.30
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: Erzählende Literatur
: German
Ein packender Nachkriegsroman, der die tragische Zerrissenheit dieser Zeit eindrucksvoll spiegelt.
Drei einst unzertrennliche Brüder kehren nach dem Zweiten Weltkrieg nach Prag zurück: Joseph Benda, Besitzer der elterlichen Glashütte und während des Krieges englischer Offizier, der Arzt Karel Benda, der das Konzentrationslager überlebte, und Thomas Benda, sensibler Dichter und Essayist, der in den USA im Exil war. Nun müssen sie erfahren, wie anders alles in der Tschechoslowakei geworden ist. Die drei Brüder gehen angesichts der Wirren im Land sehr verschiedene Wege. In ihren Auseinandersetzungen und Konflikten spiegelt sich die tragische Zerrissenheit jener Zeit.

Stefan Heyms aufrüttelnder Roman über die Nachkriegszeit, bei List Leipzig erstmals 1955 erschienen, endlich wieder lieferbar als Teil der digitalen Werkausgabe.

Stefan Heym, 1913 in Chemnitz geboren, emigrierte, als Hitler an die Macht kam. In seiner Exilheimat New York schrieb er seine ersten Romane. In der McCarthy-Ära kehrte er nach Europa zurück und fand 1953 Zuflucht, aber auch neue Schwierigkeiten in der DDR. Als Romancier und streitbarer Publizist wurde er vielfach ausgezeichnet und international bekannt. Er gilt als Symbolfigur des aufrechten Gangs und ist einer der maßgeblichen Autoren der deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts. Er starb 2001 in Israel. 'Die Augen der Vernunft' erscheint im Rahmen dieser Werkausgabe erstmals als E-Book.

Erstes Kapitel


Die Familie würde also wieder vereinigt sein.

Alles war in diesem Krieg in die Brüche gegangen – Wirtschaft, Land, Gesellschaft, Regierung. Aber solange die Familie noch bestand, war eine Grundlage vorhanden, auf der man wieder aufbauen konnte.

Das war ein gesunder und beglückender Gedanke. Aber auch erschreckend – gab es doch in der ganzen Tschechoslowakei kaum eine Familie, die nicht in den Konzentrationslagern oder Gefängnissen, bei Dünkirchen oder am Dukla-Paß oder auf den Barrikaden von Prag einen Angehörigen verloren hatte. Joseph Benda wußte es sehr wohl: er war einer von den fünfhundert Mann, die das tschechische Kontingent in der Royal Air Force gebildet hatten, und er war einer von den ungefähr achtzig Überlebenden. Senkt die Fahnen, dämpft die Trommeln, Schweigen!

Aber die Toten hatten kein Recht, diesen Tag heute zu stören. Karel lebte, Karel kam heim – der Bruder, den man längst als verloren, tot, in irgendeinem Massengrab verscharrt aufgegeben hatte. Und dennoch stand die Familie jetzt hier, als wären sie trauernde Hinterbliebene: Lida mit maskenhaft starrem Gesicht gegen ihre Müdigkeit ankämpfend; sein Bruder Thomas abgespannt und verhärmt; Kitty, die sich zur Selbstbeherrschung zwang. Petra war die einzige, die ihre Lebhaftigkeit bewahrt hatte. Sie konnte nicht still stehen, und selbst wenn sie einen Moment lang auf einer Stelle blieb, wippte sie auf ihren dünnen Beinen auf und ab.

Liegt wohl an der Hitze, dachte Joseph, drei Stunden in dieser Glut. Die Augustsonne wurde in der Bahnhofshalle kompakt und zähflüssig und ranzig. Die Menschen stießen und drängten einander in die Staubstreifen der gelben Strahlen, die schräg durch die großen, schmutzigen Fenster fielen. Sie stießen und drängten ihn und seine Familie.

Lida hatte vielleicht recht gehabt; man hatte sich ins Restaurant im Wartesaal setzen sollen. Aber Kaffee gab es ebensowenig wie Bier, nur trübes, lauwarmes Mineralwasser mit einem ekelhaften Schwefelgeruch. Und außerdem hätte man dort die Ansage überhören können, die den Sonderzug ankündigen sollte.

Irgend etwas mußte aber unternommen werden. Seine Frau und sein Kind und sein Bruder und die Frau seines Bruders erwarteten es von ihm; er war das Familienoberhaupt, und die Uniform, die er trug, verlieh ihm gleichfalls Autorität.

Joseph straffte sich, und sofort fühlte er, wie unbequem ihm die Jacke war. Sie kniff ihn in den Achselhöhlen. Er hätte sich noch in England eine neue kaufen sollen; aber damals ging der Krieg schon seinem Ende zu, und er hatte das Geld nicht ausgeben wollen. Es wäre besser gewesen, heute Zivil zu tragen.

Er ließ die Schultern wieder sinken und sagte: »Das ist doch wirklich wunderbar! Daß wir alle wieder zusammen sein werden – nach so einer langen Zeit!«

»Glaubst du, daß dieser Zug überhaupt jemals ankommt?« fragte Lida. »Könnte nicht jemand gehen und irgendwo nachfragen?«

Joseph erkannte, daß seine wohlgemeinte Bemerkung ihre Wirkung verfehlt hatte, und seufzte verärgert. Lida machte eine Bewegung, als ob sie selbst gehen wollte, aber er hielt sie zurück. »Ich bin schon bei der Auskunft gewesen – zweimal sogar; aber da weiß auch keiner was.«

»Ich versteh das nicht!« Lida tupfte ihr Taschentuch gegen ihre hohe und jetzt verschwitzte Stirn. »In seinem Telegramm steht doch: acht Uhr früh!«

Joseph betrachtete seine Frau. Er hatte einen jener