: Stefan Heym
: Inge Heym, Heinfried Henniger, Ralf Zwengel
: Offene Worte in eigener Sache Stefan-Heym-Werkausgabe
: C. Bertelsmann
: 9783641278403
: Stefan-Heym-Werkausgabe, Autobiografisches, Gespräche, Reden, Essays, Publizistik
: 1
: CHF 13.40
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: Erzählende Literatur
: German
Die Lebensbilanz einer streitbaren Jahrhundertpersönlichkeit br />Als Stefan Heym 2001 starb, verlor die deutsche Literatur einen Schriftsteller, dessen Leben wie kaum ein zweites die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts spiegelt, dessen kompromisslose Kritik an Selbstherrlichkeit, Unterdrückung und Zensur ihn zur ebenso geliebten wie gehassten Figur machte. Dass Heym seine Kunst niemals an eine Ideologie verriet, davon zeugen auch die Texte aus den letzten zwölf Jahren. Darunter die berühmte Rede, mit der Heym als Alterspräsident 1994 den Deutschen Bundestag eröffnete und die Parlamentarier zu Toleranz aufrief. 'Offene Worte in eigener Sache' ist Bilanz und Summe eines Lebens in Widerspruch, Hoffnung, Würde und Nicht-Anpassung.

Stefan Heyms Publizistik aus den letzten 12 Jahren seines Lebens, bei C. Bertelsmann erstmals erschienen 2003, endlich wieder lieferbar als Teil der digitalen Werkausgabe.

Stefan Heym, 1913 in Chemnitz geboren, emigrierte, als Hitler an die Macht kam. In seiner Exilheimat New York schrieb er seine ersten Romane. In der McCarthy-Ära kehrte er nach Europa zurück und fand 1952 Zuflucht, aber auch neue Schwierigkeiten in der DDR. Als Romancier und streitbarer Publizist wurde er vielfach ausgezeichnet und international bekannt. Er gilt als Symbolfigur des aufrechten Gangs und ist einer der maßgeblichen Autoren der deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts. Er starb 2001 in Israel.

Rede zum 1. Mai
DGB-Kundgebung in Frankfurt am Main


1991

Vor etwas über hundert Jahren, 1886, rief die Federation of Organized Trades and Labor Unions of the United States and Canada, wie der Verband der amerikanischen Gewerkschaften damals hieß, für den 1. Mai zu einem allgemeinen Streik für den Achtstundentag auf. In Chicago ruhte die Arbeit in vielen Betrieben, 25 000 Arbeiter, eine Riesenzahl für jene Zeit, demonstrierten auf Straßen und Plätzen. Zwei Tage später kam es vor den McCormick-Werken für Erntemaschinen zu Zusammenstößen zwischen Arbeitern auf der einen und Polizei und Streikbrechern auf der anderen Seite; die Arbeiter wurden blutig zusammengeschlagen. Daraufhin rief der Gewerkschaftsverband der Stadt, die Central Labor Union, zu einer Protestdemonstration auf; diese fand statt auf dem Haymarket von Chicago und verlief durchaus friedlich, sogar der Bürgermeister nahm an ihr teil.

Kaum aber hatte der sich entfernt, explodierte eine Bombe und tötete einen Polizisten. Bis heute weiß niemand, wer diese Bombe geworfen hat; wohl ein Provokateur; aber die Behörden des Staates Illinois nahmen die Sache zum Anlass, um die bekanntesten Gewerkschaftsführer von Chicago zu verhaften und vor Gericht zu zerren, wo vier von ihnen, drei Deutsche, Spies, Engel und Fischer, und der gebürtige Amerikaner Parsons, zum Tod durch den Strang verurteilt wurden.

Ich lese Ihnen aus der Zeitung »Vorbote«, die damals in Chicago erschien, den Bericht vom 12. November 1887 über die Vorgänge im dortigen Gefängnis:

Um 11.50 ertönten dumpfe Schritte durch den Korridor. Deputy Bailiff Cahill ersuchte die Anwesenden, ihre Häupter zu enthüllen, und kaum war dieses geschehen, als auch schon die Prozession sichtbar wurde. Durch die Fenster fielen die Sonnenstrahlen auf die Häupter der Märtyrer, und wie ein Glorienschein sah es sich an, als dieselben die Stufen emporstiegen.

Mit festem Schritt stellte sich Spies unter die erste Schlinge, dann kam Fischer, dann Engel, und zuletzt Parsons. Hinter jedem derselben stand ein Deputy, der ihnen die Schlinge um den Hals legte. Fischer und Engel warfen einen lächelnden Blick auf die Umstehenden, Spies und Parsons standen ruhig und gefaßt da. Nicht ein Muskel bewegte sich in ihren Gesichtern, als ihnen der Strick um den Hals gelegt wurde. Parsons sagte hierbei: »Die Schlinge ist zu fest.« Als man ihnen die Kappe über den Kopf zog, neigte sich Fischer zu Spies und flüsterte ihm etwas ins Ohr, während Engel lächelnd dem hinter ihm stehenden Deputy »goodbye« sagte.

Da erscholl Spies’ kräftige Stimme: »Angesichts der Würger des Gesetzes wird mein Schweigen fürchterlicher sein als irgendwelche Worte, die ich äußern könnte.« Eine Pause, die durch Engels Stimme unterbrochen wurde, »Hurrah für die Anarchie!« – »Dies ist der glücklichste Tag meines Lebens!«, rief Fischer aus, und dann hörte man Parsons Stimme: »Soll ich sprechen, dann: Ihr Männer und Frauen Amerikas!« Hier unterbrach ihn der Henker, worauf er ausrief: »Soll die Stimme des Volkes nicht –«

Ein Krachen. Der Mord war begangen.

Wenig später beschlossen die Gewerkschaften Amerikas und Europas, zum Gedenken an diese Männer und diese Ereignisse, und als Ansporn im Kampf um den Achtstundentag und um gerechten Lohn und für die anderen Ziele der Gewerkschaftsbewegung, den 1. Mai zum Feiertag der Arbeiter zu erheben; und ich erzähle Ihnen die Geschichte hier, weil ich glaube, daß viele von Ihnen sie längst vergessen oder auch niemals gehört haben – und weil das, was die Arbeiter an jenem 1. Mai vor mehr als hundert Jahren bewegte, uns heute immer noch bewegt: der Kampf um soziale Gerechtigkeit, konkret, für die Rechte derer, die nichts zu verkaufen haben als die Geschicklichkeit ihrer Hä