»Ich bin zu alt, zu dick und zu dumm!«
I. Da braut sich was zusammen …
oder
Wenn es plötzlich im Leben nicht mehr rundläuft
Kennen Sie das?
Sie machen es gerne allen anderen recht – und kommen selbst immer zu kurz? Sie bleiben freundlich, obwohl Ihnen eigentlich der Kragen schon geplatzt ist? Nicken, lächeln, Ja sagen. Und innerlich kochen. Kenne ich. Das kann man mal machen (muss man wohl auch), aber wenn man das Jahrzehnte praktiziert oder gar sein ganzes Leben lang, dann fliegt einem irgendwann das verdammte Nettsein um die Ohren. Vertrackte Situation. Man möchte ja gerne beliebt sein, will gemocht werden und nicht als egoistisch und unfreundlich gelten. Aber wie bekommt man diesen Spagat hin? Als ich anfing, mich mit diesem »Problem« zu beschäftigen, war ich erstaunt, wie viele Leidensgenossinnen und -genossen da draußen rumlaufen. Männer und Frauen, junge und alte, die sich nicht trauen, Nein zu sagen oder immer die Bedürfnisse der anderen vor ihre eigenen stellen. Na und, könnte man sagen, das ist doch kein gravierendes Problem! Ist es aber doch. Denn wenn man immer nur die Bedürfnisse anderer befriedigt und seine eigenen vernachlässigt, dann kann einen das auf Dauer sogar krank machen. Natürlich hat jeder Mensch seine individuelle Nettigkeitsbiografie, und auch die Auswirkungen sind unterschiedlich, aber am Ende führt es mindestens zu Unzufriedenheit und Frust. Im schlimmsten Fall kann die Psyche sogar ernsthaften Schaden nehmen.
Laut Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) zählen zu den häufigsten psychischen Erkrankungen Angststörungen und affektive Störungen wie zum Beispiel die unipolare Depression.1
Kleiner Ausflug in die Diagnostik: Unter affektiven Störungen verstehen wir eine bedeutsame Veränderung der Stimmungslage, bei der die Stimmung entweder gedrückt oder gesteigert ist. Bei der unipolaren Depression ist die Stimmung dauerhaft gedrückt, bei der bipolaren kommt ein übersteigertes Hochgefühl hinzu, die Menschen sind überaktiv, euphorisch oder gereizt. Im Volksmund spricht man auch gerne von manisch-depressiv.2
Und jetzt fragen Sie sich, wie Menschen vom »Zunettsein« Depressionen oder Angststörungen bekommen können. Expertinnen sehen da durchaus Zusammenhänge. Denn wenn ich immer nur aus Sorge vor Liebesentzug es meinen Mitmenschen recht mache oder aus Existenzängsten im Job nie meinen Mund aufmache und für meine Belange einstehe, dann kann aus einer Sorge irgendwann eine ausgewachsene Angst werden. Wohlgemerkt: kann. Muss nicht. Und auch Depressionen können so entstehen. Wenn ich und meine Bedürfnisse nie im Mittelpunkt stehen, leidet das Selbstwertgefühl. Die anderen sind ja wichtiger, und ich bin eben nicht so viel wert.»Ich bin zu alt, zu dick und zu dumm!« Oder was auch immer: Nicht gut genug, nicht hübsch genug, nicht erfolgreich genug. Alle anderen sind immer besser und wichtiger. Wenn wir stets unser persönliches Glück hintenanstellen, können wir auf Dauer traurig, niedergeschlagen und unglücklich werden. Eigentlich logisch. Interessant bei meinen Recherchen war, dass die sogenannte depressive Persönlichkeit häufig beschrieben wird mit: kann nicht Nein sagen, erfüllt stets die Forderungen anderer, stellt sich selbst in den Hintergrund.3 Und: Wir sehen sie häufig in helfenden Berufen.
Wenn jemand eine depressive Persönlichkeit ist, heißt das übrigens nicht, dass dieser Mensch depressiv ist. Es bedeutet nur, dass er tendenziell eine charakterliche Tönung aufweist, bei der die persönliche Entfaltung und die Befriedigung der eigenen Bedürfnisse etwas zu kurz kommen. Diese Menschen sind e