: Stefan Heym
: Schwarzenberg Stefan-Heym-Werkausgabe
: C. Bertelsmann
: 9783641278274
: Stefan-Heym-Werkausgabe, Romane
: 1
: CHF 8.30
:
: Erzählende Literatur
: German
: 272
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
1945: Der Krieg ist zu Ende, und die Siegermächte machen sich an eine Neuordnung Deutschlands. Doch ein kleines Fleckchen Erde namens Schwarzenberg wird dabei einfach vergessen. Die Einwohner nutzen die Chance, ihre Zukunft selbst zu gestalten - und so entsteht in der kargen Landschaft des Erzgebirges eine kleine freie deutsche Republik. Doch der Versuch, auf Dauer eine Demokratie einzurichten, die diesen Namen verdient, glückt nicht: Nur allzu bald wird die Republik Schwarzenberg von der Politik der Großmächte eingeholt.
Ein faszinierendes und packend erzähltes Gedankenspiel und eine Utopie, die beinahe Wirklichkeit geworden wäre.

Stefan Heym, 1913 in Chemnitz geboren, emigrierte, als Hitler an die Macht kam. In seiner Exilheimat New York schrieb er seine ersten Romane. In der McCarthy-Ära kehrte er nach Europa zurück und fand 1953 Zuflucht, aber auch neue Schwierigkeiten in der DDR. Als Romancier und streitbarer Publizist wurde er vielfach ausgezeichnet und international bekannt. Er gilt als Symbolfigur des aufrechten Gangs und ist einer der maßgeblichen Autoren der deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts. Er starb 2001 in Israel.

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Aufzeichnung Kadletz:
Anfänge

Dauernd umgeben von den verschiedensten Geräuschen, sind wir uns, da werden Sie mir beistimmen, ihrer kaum je bewußt. Wirklich wahrnehmen werden wir sie nur dann, wenn wir aus einer inneren Unruhe heraus oder auch aus einer Art wissenschaftlichem Interesse unser Augenmerk auf sie richten oder wenn ein ungewöhnlicher Laut unser Ohr trifft, ein besonders schrilles Klingeln, ein Schrei, ein Krachen – oder wenn sie plötzlich aufhören. Ganz verstummen sie natürlich nie; immer bleibt ein fernes Echo, ein verhallender Schritt, oder war es der eigene, der die Stille, die da eingetreten ist, um so auffälliger werden läßt.

Frieden.

Nach wie langer Zeit … Denn wann dieser Krieg eigentlich angefangen hatte, das wußte schon keiner mehr so richtig, wahrscheinlich begann er bereits mit den Fackelzügen der Uniformierten durch die Städte des Reiches und mit den gellenden Aufrufen der Führer.

Frieden.

Und dann diese unvorstellbare Stille. Aber Sie haben das ja wohl selber miterlebt, wenn auch an anderem Ort und unter anderen Umständen. In der vergangenen Nacht, pünktlich um null Uhr, so hatten sie im Radio angesagt, waren die Feindseligkeiten eingestellt worden – Feindseligkeiten, was für ein außerordentlich zurückhaltendes Wort für so viel Blut. In solcher Stille ist man versucht, nachzudenken: wie alles war und wie es geschehen konnte, auch wie es gekommen sein mag, daß man selbst noch lebt, trotz Verhaftung, Verhören, Konzentrationslager oder, andersherum betrachtet, gerade deshalb. Das nie mehr, hatte Bertha mir gesagt, als ich von dort zurückkam, ich bin deine Frau, hatte sie gesagt, und ich verlange von dir, daß du dich von jetzt an ruhig verhältst, die haben die Macht, das siehst du doch, und es kommt mir kein unbedachtes Wort mehr aus deinem Mund, nichts, was sie reizen könnte, du tust deine Arbeit, wenn du welche kriegst, und wartest, bis sie dich vergessen. Und es gab ja auch keinen mehr, mit dem zusammen sich etwas hätte unternehmen lassen, eine kleine Stadt, dieses Schwarzenberg, keine dreizehntausend Einwohner damals, jeder beobachtete jeden, nicht mal ein Gespräch kam zustande. Da sah ich schließlich ein, so schwer es mir auch fiel, daß Überleben alles war. Es war sogar eine revolutionäre Pflicht: überleben, bis der Tag käme.

Das Sonderbare war nur, ob Sie es mir nun glauben oder nicht, daß der Tag gekommen war, und ich wußte es nicht. Nur diese Stille war um mich, und ich fragte mich, wo sind denn auf einmal die Leute? Und in dem Moment sagte eine Stimme: »Sind Sie nicht Herr Kadletz?«

Der Fragesteller mußte mein Erschrecken wohl bemerkt haben, denn er lachte leise und sagte: »Was starren Sie so, ich bin kein Gespenst.«

Ich sehe ihn noch vor mir, wie er da stand, vor dem Haus am Marktplatz, dürre Silhouette gegen die hellgrauen blechernen Rolläden, die an dem Tag heruntergelassen waren und so die Kleiderpuppen hinter den Schaufenstern verbargen, und wie er sich auf das Mädchen an seiner Seite stützte, das merkwürdig geistesabwesend zu sein schien und nur lebendig wurde, wenn es ihn anblickte. Ich spürte, daß ich ihn eigentlich kennen müßte, aber in welcher Gestalt hatte ich ihn einst gekannt, gew