: Stefan Heym
: Lenz oder die Freiheit Stefan-Heym-Werkausgabe - revidierte Fassung
: C. Bertelsmann
: 9783641278380
: Stefan-Heym-Werkausgabe, Romane
: 1
: CHF 15.20
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: Erzählende Literatur
: German
Die abenteuerliche Geschichte des Aufrührers, Dichters und Frauenhelden Andreas Lenz
Das Großherzogtum Baden im Revolutionsjahr 1849: Andreas Lenz ist ein feuriger Schwärmer und Rebell. Seine Wege kreuzen Josepha, ein lebensfrohes Mädchen aus dem Volk, und die geheimnisvolle und charakterstarke Lenore, die aus Liebe zu Lenz mit ihrem großbürgerlichen Elternhaus bricht und das gefahrvolle Leben des Freundes teilt. In farbigen, unvergesslichen Bildern rollt Stefan Heym die bewegte Geschichte des Aufstands ab, in dem das Volk um die Lösung der nationalen Frage und um die Schaffung demokratischer Verhältnisse kämpfte. Er fängt die Hoffnung und den Schmerz jener Tage ein, zeigt die Triebkräfte der Ereignisse auf, macht ein bedeutungsvolles und folgenschweres Kapitel deutscher Vergangenheit einprägsam lebendig.

Stefan Heyms brillanter historischer Roman über die badische Revolution von 1848/49, auf Deutsch erstmals erschienen 1963 beim Paul List Verlag, Leipzig, endlich wieder lieferbar in der digitalen Werkausgabe.

Stefan Heym, 1913 in Chemnitz geboren, emigrierte, als Hitler an die Macht kam. In seiner Exilheimat New York schrieb er seine ersten Romane. In der McCarthy-Ära kehrte er nach Europa zurück und fand 1952 Zuflucht, aber auch neue Schwierigkeiten in der DDR. Als Romancier und streitbarer Publizist wurde er vielfach ausgezeichnet und international bekannt. Er gilt als Symbolfigur des aufrechten Gangs und ist einer der maßgeblichen Autoren der deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts. Er starb 2001 in Israel.

Prolog


»Verrückte Idee!«

»Ja? – Was ist so verrückt …?«

»Dies alles!« Lenz wies auf die schwarzen Sträucher, dann glitt seine Hand über das Feld, das sich grau und trübe in der aufsteigenden Dämmerung des Februarnachmittags streckte, über die Reste von Schnee auf dem Hügelzug, hinter dem noch mehr Gräber lagen. »Friedhof! Meilenweit Friedhof!«

»Schließlich mußte man sie ja irgendwo begraben«, antwortete ich. »Warum nicht, wo sie starben?«

Lenz runzelte die Stirn. Er schlug den Kragen seines Wintermantels hoch. »… und geloben wir hier feierlich, daß diese Toten nicht umsonst gestorben sein sollen«, sagte er. Das Lachen, das die Düsterkeit des Zitats aufhellen sollte, glückte nicht ganz. Die Schatten über diesem Ort waren zu schwer.

Ich bekämpfte das leichte Frösteln, das mir den Rücken hinunterkroch und an dem das Wetter schuld war. Ich wollte etwas sagen über vergangene Zeiten und daß wir im Jahre 1944 lebten, daß wir unseren eigenen Krieg hätten und unsere eigenen Sorgen.

»Natürlich mußte man sie irgendwo begraben«, fuhr er fort und verzog spöttisch das schmale, empfindsame Gesicht. »Aber müssen wir ausgerechnet dort hausen, wo sie begraben sind?«

Damit hatte er recht. Wir redeten niemals darüber, doch in der einen oder anderen Form hatte der Gedanke daran die meisten Leute in der Kompanie mehr als einmal geplagt. Man gewöhnt sich an vieles in der Armee; die Offiziersgehirne haben besondere Windungen; doch was hier geschah, besaß einen ganz eigenen, faden Geschmack: Männer, die man in kommende Schlachten schicken wollte, unter den Toten einer vergangenen Schlacht unterzubringen!

Oh, Gettysburg! Schmetternde Trompeten! Das dumpfe Dröhnen von Pferdehufen auf den Schollen dieser Erde – Atta – a – acke!

Und das erbarmungslose Krachen der Geschosse und das Knirschen der Bajonette, die in Fleisch und Knochen stießen!

Wir schliefen in ein paar verfallenen Baracken, die seinerzeit die Jungens vom Civilian Conservation Corps gebaut hatten, als sie hierhergeschickt worden waren, um den Friedhof zu säubern und die Arbeitslosenlisten während der großen Depression niedrigzuhalten. Jetzt schluckte die Armee die Arbeitslosen, Gott sei Dank, und Sergeant Andrew Lenz und ich, die Gewehre über die gekrümmten Schultern gehängt, spielten Patrouille auf den Schlachtfeldern vergangener Jahre.

»O Gott!« seufzte er. »Ich setze mich hin.«

Vom Standpunkt der Bequemlichkeit aus hatte das Patrouillieren auf einer gut erhaltenen nationalen Gedenkstätte seine Vorteile. Hier gab es Bänke, die durch sorgsam angepflanzte Hecken vorm Wind geschützt waren; im Sommer war es sicher sehr nett hier, mit schattigen Winkeln rings um ein paar alte, gewissenhaft gepflegte Kanonen und einem guten Blick auf einen schönen großen Grabstein, von dem man Namen, Dienstgrad und Einheit ablesen konnte.

Lenz wischte Schmutz und Feuchtigkeit von einer Ecke der Bank, setzte sich und streckte die Beine aus. Er stellte das Gewehr zwischen die Knie, nahm den Helm ab und hängte ihn über die Mündung. Schweißfeuchtes dunkles Haar klebte ihm auf der Stirn. Er hatte eine hohe, wohlgeformte Stirn und schiefergraue, meistens nachdenkliche Augen. Ich hatte den Verdacht, daß er Gedichte schrieb oder wenigstens geschrieben hatte; aber derartiges war ihm nie in den Sinn gekommen, versicherte er mir, und die Vermutung schien ihn zu befremden. Er war Drucker von Beruf; wahrscheinlich haben Drucker etwas von einem Intellektuellen an sich.

Jetzt hefteten sich diese seine Augen auf den Grabstein. Ich sah, wie er erstarrte. »Schau dir das an!« sagte er. »Ich will verdammt sein!«<