Die Bibel hört auch in unserer Zeit nicht auf zu wirken, ja, sie erzielt nicht selten Wirkungen, wo man es am wenigsten vermutete: „Sie istein Buch unddas Buch, sie ist wie alle Bücher und doch mehr als jedes Buch“, streicht ein aktueller SammelbandDas Buch in den Büchern. Wechselwirkungen von Bibel und Literatur heraus (Pollaschegg/Weidner 2012, 33). In der Tat: „Ohne Zahl sind die stofflichen, motivischen, thematischen, stilistischen und kompositorischen Referenzen literarischer Texte auf die Bibel, die dabei im selben Maße als kultureller Wissensspeicher wie als ästhetisches, religiöses und gesellschaftliches Reflexionsmedium sichtbar wird“ (ebd., 10).
Als ein Werk der Weltliteratur, das wie kein anderes die Dichtung aller Epochen prägte und inspirierte, ist die Bibel das am meisten literarisch ausgeschöpfte Buch. Jahrhundertelang schrieben nicht nur Exegeten, sondern auch bildende Künstler, Musiker, Dichter und Literaten die Bibel weiter. Mehr noch als durch die persönliche Lektüre wird die Kenntnis und Erinnerung der Heiligen Schrift durch Literatur und Kunst wachgehalten, die die Bibel illustriert und ausdeutet.
Die kirchlich-katechetische ebenso wie die künstlerisch-kreative Rezeption der Bibel zeigt, wie unser Vorverständnis durch ein weites Feld vielfältiger Interpretation geformt ist. Jeder Leser, jede Hörerin der Bibel ist in die Kette ihrer Auslegung gestellt, deren Stimmenvielfalt einen Gedächtnis- und Echoraum fortlaufender Tradition und Applikation bilden, der ihren Text wie ein Kokon umgibt. Wer als Schriftstellerin oder Schriftsteller auf die Bibel Bezug nimmt, bezieht sich nicht nur auf das Buch der Bücher, sondern – zumindest implizit, häufig bewusst und explizit – auch auf dessen plurale religiös-spirituelle und kulturelle Wirkungsgeschichte.
Erstaunlich genug: Gerade in der zeitgenössischen Literatur werden biblische Sprachformen, Stoffe, Motive und Figuren vielfältig aufgegriffen, berichtigt, weiter- und umerzählt oder ganz neu gedeutet. Schriftstellerinnen und Schriftsteller, darunter oft gerade solche, bei denen man es nicht von vornherein erwartet,