1. Kapitel
»Wag es ja nicht, jetzt wegzugehen! Ich rede mit dir! Mach noch einen Schritt und du hast die restliche Woche Hausarrest!«
Habe ich das gerade tatsächlich gesagt? Ich fühle mich, als wäre ich mit jeder Silbe um ein Jahrzehnt gealtert. Was habe ich in meinem Leben nur falsch gemacht, dass ich als Zwanzigjährige schon die Mutter für einen Teenager spielen muss?
Die Antwort darauf will ich lieber nicht wissen.
Meine Schwester bleibt stehen. Die Hand, die sie bereits nach ihrer Türklinke ausgestreckt hat, lässt sie in Zeitlupe sinken. Ich kann sehen, dass ihre Finger beben. Sie ist wütend. Natürlich ist sie das. Das ist die einzige Emotion, zu der sie noch fähig ist.
Noch dreht sie sich nicht um. Unwillkürlich spanne ich mich an. Es ist absurd, aber ich habe Angst vor dem, was als Nächstes passiert. Wird meine Schwester explodieren wie eine Bombe und unsere kleine Dachgeschosswohnung in Schutt und Asche legen? Auszuschließen ist es nicht. Früher habe ich mich immer vorsorglich aus der Schusslinie zurückgezogen, sobald sie sich mit unseren Eltern angelegt hat. Doch das ist keine Option mehr. Denn ich bin nicht mehr nur ihre Schwester, ich bin auch ihre Erziehungsberechtigte.
Langsam dreht sich Rosa zu mir um. Inzwischen beben nicht mehr nur ihre Hände, sondern ihr ganzer Körper. Durch die Hitze und hohe Luftfeuchtigkeit unterm Dach kringeln sich ihre roten Locken noch stärker als sonst. So haben ihre Haare große Ähnlichkeit mit der Schlangenfrisur von Medusa. Und der Blick, mit dem sie mich durchbohrt, legt nahe, dass sie ebenfalls Menschen in Stein verwandeln kann. Ich kann vermutlich froh sein, dass ich noch nicht als antike Statue im Flur stehe.
»Hausarrest?«, ruft sie fassungslos. »Willst du mich verarschen, Lotta?«
»Nein, aber ich glaube, du willst mich verarschen!« Solche Worte sollte man als Erziehungsberechtigte vermutlich nicht benutzen. Aber meine eigene Wut pocht mir schon wie ein sich ankündigender Kopfschmerz von innen gegen die Schädeldecke. »Du hast schon wieder die Schule geschwänzt. Ich dachte, wir hätten darüber gesprochen.«
Meine Schwester schnaubt.
»Wir haben nicht darüber gesprochen. Du hast gesprochen!«
So habe ich früher auch mit unseren Eltern geredet. Nun wünschte ich, ich könnte jedes unfaire und zickige Wort zurücknehmen. Doch das kann ich nicht.
Der Gedanke an meine Eltern lässt meine Wut einfach verschwin