: Fjodor Dostojewski
: Die Dämonen. Roman. Band 2 von 3 Mit erläuternden Anmerkungen versehen.
: apebook Verlag
: 9783961303793
: 1
: CHF 2.70
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: Erzählende Literatur
: German
Im kalten Russland des späten 19. Jahrhunderts verdichten sich die Zeichen einer aufkommenden neuen Zeit. Eine Gruppe junger Revolutionäre möchte den Umbruch mit allen Mitteln erzwingen. In die gesellschaftlichen Wirrungen spielen zudem auch persönliche Interessen, Affären und Liebschaften der Beteiligten mitein. Zunehmend eskaliert die Entwicklung, bis es schließlich zu kaltblütigen Morden kommt. Es scheint, als wären die Menschen von bösen Geistern besessen und hätten jedes moralische Empfinden verloren. Die vorliegende Ausgabe folgt der Übertragung ins Deutsche von Hermann Röhl (1851-1923) aus dem Jahr 1920 und ist mit erläuternden Anmerkungen versehen. Dies ist der zweite von drei Bänden.

Zweites Kapitel.


I.

Er ging die ganze Bogojawlenskaja-Straße entlang; endlich senkte sich der Weg; die Füße wateten im Schmutz, und auf einmal tat sich ein weiter, nebliger, anscheinend leerer Raum auf: der Fluß. Die Häuser verwandelten sich in Hütten; die Straße verlor sich in einer Menge unordentlicher Gäßchen. Nikolai Wsewolodowitsch ging längere Zeit an Zäunen hin, ohne sich vom Ufer zu entfernen; aber er verfolgte mit Sicherheit seinen Weg und dachte sogar kaum an ihn. Er war mit ganz anderen Gedanken beschäftigt und blickte erstaunt um sich, als er, aus seiner Versonnenheit zu sich kommend, bemerkte, daß er sich beinah auf der Mitte unserer langen, nassen Schiffbrücke befand. Ringsum war kein Mensch zu sehen, so daß es ihm sonderbar erschien, als sich plötzlich, beinahe dicht an seinem Ellbogen, eine höflich-familiäre, übrigens ziemlich angenehme Stimme mit jener süßlichen, skandierenden Aussprache hören ließ, mit der bei uns sehr kultivierte Kleinbürger oder junge lockige Handlungskommis sich ein Air zu geben suchen.

»Erlauben Sie wohl, mein Herr, daß ich Ihren Schirm mitbenutze?«

Und wirklich schlüpfte eine Gestalt unter seinen Schirm oder stellte sich wenigstens so, als ob sie es tun wollte. Der Landstreicher ging neben ihm her und nahm beinah »Fühlung mit dem Ellbogen«, wie die Soldaten sich ausdrücken. Nikolai Wsewolodowitsch verlangsamte seinen Schritt und bog sich ein wenig zur Seite, um den Menschen anzusehen, soweit das in der Dunkelheit möglich war: er war von kleiner Statur und machte den Eindruck eines verlotterten Kleinbürgers; sein Anzug war nicht warm und dabei nachlässig; auf dem strubbligen, krausen Kopfe saß eine nasse Tuchmütze mit halb abgerissenem Schirme. Wie es schien, war er kräftig und mager, mit dunklem Haar und dunkler Hautfarbe; seine Augen waren groß, sicherlich schwarz, mit dem starken Glanze und gelblichen Schimmer, den man oft bei Zigeunern findet; das ließ sich sogar in der Dunkelheit erraten. Er mochte etwa vierzig Jahre alt sein; betrunken war er nicht.

»Du kennst mich?« fragte Nikolai Wsewolodowitsch.

»Herr Stawrogin, Nikolai Wsewolodowitsch; Sie wurden mir auf dem Bahnhofe, als der Zug angekommen war, gezeigt. Außerdem habe ich früher von Ihnen gehört.«

»Durch Peter Stepanowitsch? Du ... du bist der Sträfling Fedka?«

»Getauft bin ich Fjodor1 Fjodorowitsch; bis jetzt habe ich noch meine leibliche Mutter hier in der Gegend wohnen; sie ist eine gottesfürchtige alte Frau, ganz gebückt; sie betet für mich Tag und Nacht, um so ihre alten Tage nicht nutzlos auf dem Ofen zuzubringen.«

»Du bist von der Zwangsarbeit weggelaufen?«

»Ich habe meine Lage verändert. Ich hatte Bücher und Glocken und Kirchengeräte zu Gelde gemacht; dafür war ich zu lebenslänglicher Zwangsarbeit