: Heinrich Mann
: Im Schlaraffenland Ein Roman unter feinen Leuten
: Null Papier Verlag
: 9783962818357
: 1
: CHF 0.80
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: Hauptwerk vor 1945
: German
: 543
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
In seinem ersten Roman hat Heinrich Mann zugleich auch sein Lieblingsthema gefunden: die korrupte Gesellschaft zu Zeiten Kaiser Wilhelms II. Der Roman zeichnet Aufstieg und Fall des aus einfachen Verhältnissen stammenden und leidlich talentierten Möchtegern-Literaten Andreas Zumsse. Bedingt durch Glück und Beziehungen steigt er in der wilhelminischen Gesellschaft von Reichtum und Macht auf. Aber die Etablierten verzeihen ihm seinen Erfolg nicht. Und durch eigene Hybris und einem Hang zu Ränkespielen hat Zumsse schon bald seinen Zenit überschritten und sieht sich schlussendlich wieder auf dem Weg zurück nach unten. Jahre später schrieb Mann in einem Brief über seinen Roman: 'Mit 20 konnte ich gar nichts. Gegen 30 lernte ich an meinem Schlaraffenland die Technik des Romans.' Null Papier Verlag

Luiz Heinrich Mann (27.03.1871-11.03.1950) war ein deutscher Schriftsteller aus der Familie Mann. Er war der ältere Bruder von Thomas Mann. Seine Erzählkunst war vom französischen Roman des 19. Jahrhunderts geprägt. Sein erzählerisches Werk steht neben einer ebenso reichen Betätigung als Essayist und Publizist. Als früher Gegner der Nationalsozialisten wurde er bereits 1933 mit Sanktionen belegt. Mann stand auf der ersten Ausbürgerungsliste des Deutschen Reichs von 1933, er befand sich dort in illusterer Gemeinschaft mit Lion Feuchtwanger, Alfred Kerr, Kurt Tucholsky und Philipp Scheidemann. Mann emigrierte nach Frankreich und später in die USA, wo er er zahlreiche Arbeiten, darunter viele antifaschistische Texte, verfasste.

I. Der Gumplacher Schulmeister


Im Win­ter 1893 ar­bei­te­te An­dre­as. Er war flei­ßig wie ein ar­mer Stu­dent, der nicht in alle Ewig­keit auf den Wech­sel von zu Hau­se rech­nen kann. Als es aber Früh­ling ward, ging eine Ver­än­de­rung mit ihm vor. Wäh­rend der Os­ter­fe­ri­en, die er aus Man­gel an Rei­se­geld in Ber­lin ver­brach­te, muss­te er im­mer­fort an die Freun­de den­ken und an die Fahr­ten, den Rhein zu Ber­ge. Ein aus­gie­bi­ger Vor­rat von des Va­ters pri­ckeln­dem Fe­der­wei­ßen be­fand sich im Boot.

Das Heim­weh ver­an­lass­te den jun­gen Mann zum Nach­den­ken. Er über­leg­te sich die große Zahl der Ge­schwis­ter und die schlech­te Ern­te des vo­ri­gen Jah­res. Nun, mit dem Wein­berg, der nur noch alle sie­ben Jah­re ein­mal or­dent­lich trug, wür­de er nichts mehr zu tun ha­ben. Sein zu­künf­ti­ges Erb­teil ging bei sei­nem Stu­di­um im Voraus drauf. Merk­wür­di­ger­wei­se schloss An­dre­as hieraus nicht, dass er umso schnel­ler auf das Ex­amen los­zu­ar­bei­ten habe, son­dern dass sei­ne An­stren­gun­gen gar zu we­nig loh­nend sei­en. Als mit­tel­lo­ser Schul­amts­kan­di­dat war al­les, was er tun konn­te: nach Gum­plach zu­rück­keh­ren und auf eine An­stel­lung am Pro­gym­na­si­um war­ten. War das eine Zu­kunft für ihn, An­dre­as Zum­see, des­sen Ta­lent, nach An­sicht al­ler, zu großen Hoff­nun­gen be­rech­tigt hat­te? Mit acht­zehn Jah­ren hat­te er Ge­dich­te ge­macht, mit de­nen sei­ne Freun­de und so­gar er selbst voll­kom­men zu­frie­den ge­we­sen wa­ren. Seit­dem hat­te der »Gum­pla­cher An­zei­ger« eine No­vel­le von ihm ge­bracht, die ihm die Gunst des Mä­zens von Gum­plach ein­ge­tra­gen hat­te. Es war der alte Herr, den es in je­der klei­nen Stadt gibt, und der bei sei­nen Mit­bür­gern als harm­lo­ser Son­der­ling gilt, weil er sich mit Li­te­ra­tur be­fasst.

Am Os­ter­sonn­tag be­such­te An­dre­as das Kö­nig­li­che Schau­spiel­haus, um den ers­ten Teil des Faust zu se­hen. Auf der Ga­le­rie zog er sich hin­ter einen Pfei­ler zu­rück. Er hat­te kei­nen Be­kann­ten in Ber­lin, schäm­te sich aber sei­nes bil­li­gen Plat­zes. Sei­ne Ei­tel­keit leg­te ihm Op­fer auf. Im Zwi­schen­akt stieg er, nicht weil es ihm Freu­de mach­te, son­dern weil die Selb­st­ach­tung es ihm ge­bot, ins Par­kett hin­ab und dräng­te sich auf dem Kor­ri­dor in der gu­ten Ge­sell­schaft um­her.

Ein­mal stau­te sich der Zug der Wan­deln­den, weil vie­le gaf­fend und hor­chend zwei be­deu­tend aus­se­hen­de Her­ren um­dräng­ten. Den grö­ße­ren von ih­nen er­kann­te An­dre­as so­fort wie­der; es war der Pro­fes­sor Schwen­ke, ein Aka­de­mi­ker, der sich eine Aus­nah­me­stel­lung ver­schafft hat­te da­durch, dass er al­les Mo­der­ne pro­te­gier­te. Er trug eine Künst­ler­lo­cke auf der Stirn, hielt die Hän­de in den Ta­schen sei­nes hel­len Jacketts und hat­te so große Furcht, pe­dan­tisch zu er­schei­nen, dass er beim Spre­chen den Ober­kör­per stets in ei­nem bur­schi­ko­sen Schwun­ge er­hielt. Sein Ge­gen­über war einen Kopf klei­ner, bart­los, und sein bors­ti­ges schwar­zes Haar hing über ei­nem Hals­kra­gen von zwei­fel­haf­ter Wei­ße. Er hat­te eine Ad­ler­na­se und gelb­le­der­ne Ge­sichts­haut, und sein zu wei­ter Geh­rock reich­te bis un­ter die Knie hin­ab. An­dre­as war sehr be­gie­rig zu wis­sen, wer die­se Per­sön­lich­keit sei, die äu­ßer­lich zwi­schen Cl­er­gy­man und Kon­zert­vir­tuo­sen un­ge­fähr die Mit­te hielt. Ein Herr, der von fern dem Klei­nen wink­te, rief:

»Herr Dok­tor Abell!«

»Soll­te das Abell sein?« dach­te An­dre­as, »der Kri­ti­ker des ›Nacht­ku­rier‹?«

Er konn­te es kaum fas­sen, dass man die großen Män­ner, die im Reich der Be­grif­fe leb­ten, hier in der Wirk­lich­keit wie­der­fand. Sein Herz schlug hö­her, und er schau­te sich arg­wöh­nisch um, ob man ihm et­was an­mer­ke. Denn er woll­te um kei­nen Preis naiv aus­se­hen.

Von sei­nem Ga­le­rie­platz such­te er die bei­den Her­ren wie­der auf; sie sa­ßen dicht hin­ter dem Or­che­s­ter. An­dre­as schiel­te mehr­mals has­tig nach sei­nem Nach­barn, ei­nem blon­den jun­gen Man­ne in be­schei­de­nem schwar­zen Röck­chen. End­lich hielt er es nicht mehr aus:

»Ent­schul­di­gen Sie«, sag­te er, »ich bin kurz­sich­tig. Ich mei­ne dort vorn den Dok­tor Abell zu er­ken­nen?«

Er be­müh­te sich, ganz dia­lekt­frei zu spre­chen. Der jun­ge Mann er­wi­der­te höf­lich:

»Ge­wiss. Das ist Dok­tor Abell. Er sitzt ne­ben Dok­tor Wa­che­les vom ›Ka­bel‹. Zwei Rei­hen hin­ter den Her­ren se­hen Sie auch Dok­tor Bär von der ›A­bend­zei­tung‹ und Dok­tor Thu­nich­gut von der ›Klei­nen Bör­se‹.«

Ne­ben ih­nen mach­te man »Pst!«, und der Vor­hang ging auf. An­dre­as sah nichts an­de­res mehr als die Rücken der Kri­ti­ker. Sie nah­men Plät­ze ein, de­nen auch er sich ge­wach­sen fühl­te. Mit san­gui­ni­scher Fan­ta­sie mal­te er sich schon sei­nen Ein­tritt in den Saal aus. Er schritt ge­las­sen, im Ge­fühl sei­ner Unent­behr­lich­keit, auf den ihm re­ser­vier­ten Ses­sel zu. Er lehn­te sich zu­rück, ver­schränk­te die Arme und lausch­te nach­läs­sig mit mil­dem Lä­cheln den Künst­lern, die mehr für ihn als für tau­send an­de­re spra­chen. Ei­ni­ge Zei­len in der Re­dak­ti­on, wo­hin er nach der Vor­stel­lung fuhr, flüch­tig auf das Pa­pier ge­wor­fen, si­cher­ten ihm Macht, Ein­fluss, ein gu­tes Ein­kom­men und eine an­ge­se­he­ne ge­sell­schaft­li­che Stel­lung in Ber­lin. Der Gum­pla­cher Schul­meis­ter durf­te die­se Zu­kunft nicht durch­kreu­zen. Das be­ru­fe­ne Ta­lent brach sich Bahn.

Um sich selbst in sei­nen Hoff­nun­gen zu be­stär­ken, hät­te er sie gern laut aus­ge­spro­chen. Er sah mehr­mals schnell um sich und schnapp­te vor Er­re­gung nach Luft. Sein Nach­bar, der ihn durch einen schwarzum­ran­de­ten Knei­fer still an­blin­zel­te, sag­te ver­bind­lich:

»Wir sind wohl Kol­le­gen?«

An­dre­as stutz­te und be­sann sich.

»Sie sind auch Schrift­stel­ler?« frag­te er.

Der an­de­re ver­beug­te sich.

»Fried­rich Köpf, Schrift­stel­ler.«

Er sprach mit ge­spitz­ten Lip­pen, als sei es ihm eher pein­lich, dies ein­zu­ge­ste­hen. An­dre­as wur­de im Ge­gen­teil rot vor Ver­gnü­gen, wäh­rend er sich vor­stell­te. Es war das ers­te Mal, dass er sich als Li­te­rat be­zeich­ne­te. Er mein­te sei­ne Lauf­bahn hier­mit in al­ler Form zu be­gin­nen.

»Ich ma­che al­ler­dings ge­ra­de die ers­ten Schrit­te in mei­nem Be­ruf«, setz­te er hin­zu.

»Oh, das be­ru­fe­ne Ta­lent bricht sich Bahn«, ver­si­cher­te der jun­ge Mann.

An­dre­as rich­te­te sich auf und sah ihn dro­hend an; aber er über­zeug­te sich, dass der an­de­re ganz harm­los lä­chel­te. Er ver­setz­te dar­auf:

»Ich bin bis­her bloß Mit­ar­bei­ter ei­nes Pro­vinz­blat­tes ge­we­sen.«

»Ah, Sie sind be­reits jour­na­lis­tisch tä­tig?«

»Ich habe am Feuil­le­ton mit­ge­ar­bei­tet.«

An­dre­as ver­mied es, das un­be­rühm­te Blätt­chen zu nen­nen, das sei­ne jun­ge Kraft ge­won­nen hat­te, und sein neu­er Be­kann­ter war dis­kret ge­nug, nicht da­nach zu fra­gen. Er sag­te über­haupt nichts mehr,...