[11]Teil 1
Nachdem ich mich der Runde, die ich in Cleanthes’ Bibliothek sitzend fand, zugesellt hatte, äußerte sich Demea gegenüber Cleanthes in anerkennender Weise über seine große Sorgfalt im Zusammenhang mit meiner Erziehung sowie über seine nie wankende Beständigkeit in all seinen Freundschaften. Pamphilus’ Vater, sagte er, war dein enger Freund; der Sohn ist dein Zögling, ja darf als dein Adoptivsohn gelten, wenn wir nach der Mühe urteilen wollen, die du dir machst, ihm jeden nützlichen Zweig von Literatur und Wissenschaft nahezubringen. Nun ist deine Einsicht, davon bin ich überzeugt, nicht geringer als dein Eifer. Deshalb möchte ich dir jetzt einen Grundsatz mitteilen, den ich befolgt habe, was meine eigenen Kinder angeht; ich möchte sehen, wieweit er mit deinem Vorgehen im Einklang steht. Und zwar gründet sich die Erziehungsmethode, die ich anwende, auf folgendes Wort eines antiken Autors: »Wer sich mit Philosophie beschäftigt, muss zuerst Logik studieren, dann Ethik, darauf Physik und zuallerletzt die Natur der Götter.«1 Danach erfordert die Wissenschaft der natürlichen Theologie, da sie die tiefste und am schwersten verständliche aller Wissenschaften ist, das größte Maß an Urteilsvermögen; und nur einem Geist, der über all die anderen Wissenschaften schon verfügt, darf man sie ohne Gefahr zumuten.
Wartest du so lange, sagte Philo, bis du deinen Kindern die Grundsätze der Religion beibringst? Ist nicht zu befürchten, dass sie Auffassungen, von denen sie während[12]ihrer ganzen Erziehung so wenig gehört haben, später vernachlässigen oder vollkommen abweisen werden? Lediglich als Wissenschaft, erwiderte Demea, die an menschliche Reflexionen und Erörterungen gebunden ist, stelle ich die Beschäftigung mit der natürlichen Theologie zurück. Die Kinder früh zur Frömmigkeit zu erziehen, ist dagegen meine Hauptsorge; durch ständige Lehre und Unterweisung und auch, wie ich hoffe, durch mein Beispiel präge ich ihrem noch empfänglichen Geist die feste Bereitschaft ein, sämtliche Grundsätze der Religion zu achten. Während sie all die anderen Wissenschaften durchlaufen, weise ich sie immer wieder auf die Ungewissheit der jeweiligen Lehren hin, auf die unaufhörlichen Streitigkeiten der Menschen, auf die Dunkelheit aller Philosophie sowie auf die seltsamen, ja lächerlichen Folgerungen, die einige der größten Geister aus den Grundsätzen der bloßen menschlichen Vernunft abgeleitet haben. Nachdem ich auf diese Weise ihr Selbstvertrauen gezähmt und ihnen die gebührende geistige Demut beigebracht habe, trage ich nicht länger Bedenken, ihnen die größten Geheimnisse der Religion zu eröffnen; jene hochmütige Anmaßung der Philosophie, die jemanden verleiten kann, selbst die anerkanntesten Lehren und Auffassungen abzulehnen, scheint mir nun keine Gefahr mehr zu bilden.
Die Vorsorge, sagte Philo, die darin liegt, dass du deine Kinder schon früh zur Frömmigkeit erziehst, ist mit Sicherheit sehr vernünftig und in diesem weltlichen und irreligiösen Zeitalter auch durchaus notwendig. Was ich aber an deiner Erziehungsmethode vor allem bewundere, das ist die Art und Weise, wie du dir jene Grundsätze der Philosophie und Wissenschaft, die Stolz und Selbstzufriedenheit[13]fördern und dadurch auf die Grundsätze der Religion zu allen Zeiten so destruktiv gewirkt haben, gerade zunutze machst. Man kann zwar feststellen, dass das einfache Volk, das von Wissenschaft und Forschung keine Ahnung hat,