Teil 1
Transformation als Ziel. Interdisziplinäre Perspektiven
Einführung
Tobias Künkler und Tobias Faix
Eines der wesentlichen Unterscheidungsmerkmale von Tieren und Menschen ist die massive Anpassungsfähigkeit von Menschen und ihre grundlegende Offenheit für Lernprozesse und ganz unterschiedliche kulturelle Umwelten. So kommt es, dass Menschen in Bottrop, der Savanne und am Südpol leben, Pinguine aber nur am Südpol. Letztere sind angewiesen auf eine spezifische Umwelt; Menschen können sich an unterschiedliche Umwelten anpassen, indem sie ihre eigene Kultur erschaffen. Die erste Große Transformation in diesem Prozess war die neolithische Revolution vor rund 10.000 Jahren in der Jungsteinzeit. Menschen begannen, mittels Ackerbau und Viehzucht sesshaft zu werden. Erst die historisch noch recht junge Industrialisierung kann als zweite Große Transformation betrachtet werden.»Befeuert durch die Erschließung und Nutzung über Jahrmillionen in der Erdkruste aufgebauter fossiler Energieträger, entfaltete die Menschheit ab Beginn des 19. Jahrhunderts eine nie dagewesene Produktivität. Sie ermöglichte eine gewaltige Explosion der Weltbevölkerung und einen Wohlstand für mehrere Milliarden Menschen auf dem Planeten Erde, der in vorangegangenen Menschheitsepochen nur kleinen Eliten überhaupt möglich war.«1
Der Preis für diese Erfolgsgeschichte ist die Überschreitung oder drohende Überschreitung planetarer Grenzen. Aus diesem Grund verkündete 2016 eine internationale Gruppe von Wissenschaftler:innen, dass wir im Erdzeitalter des Anthropozän leben. Seit Beginn der zweiten Großen Transformation sind die Eingriffe der Menschheit in biologische, geologische und atmosphärische Prozesse so massiv, dass deren Folgen den gesamten Globus für den Zeitraum eines ganzen Erdzeitalters (100.000–300.000 Jahre) prägen werden.
Mit dem Zeitalter der Menschen ist eine Weltrisikogesellschaft entstanden. Menschen beherrschen und kontrollieren die Natur einerseits immer stärker, andererseits verlieren sie immer mehr die Kontrolle, da fortlaufend nichtintendierte Nebenfolgen mit gravierenden Konsequenzen produziert werden. In einem Artikel der Wochenzeitung »Die Zeit« stand 2018, also lange vor der Covid-19-Pandemie, folgende Aussage:»Noch in den Siebzigerjahren galt: Verheerende Infektionskrankheiten würden bald besiegt sein. […] Doch der Optimismus verpuffte. Heute, 40 Jahre später, ist nichts mehr von ihm geblieben. Im Gegenteil: Forscherinnen und Forscher warnen vor einem Zeitalter der Epidemien, vor großen Seuchen, an deren Folgen Tausende Menschen sterben könnten.«2 Woher kamen diese Warnungen? Zum einen lagen Daten vor, die zeigten, dass Infektionskrankheiten an Häufigkeit und Dynamik ihrer globalen Verbreitung zunahmen. Nur die Spitze dieses Eisberges ist, dass die WHO 2009, 2014 und 2016 wegen Schweinegrippe, Ebola und Zika den internationalen Gesundheitsnotstand ausrief. Zum anderen ergeben sich aus den Daten immer mehr Hinweise, dass das Zeitalter der Menschen auch das Zeitalter der Epidemien werden könnte. Deutlich wird das beispielsweise an den Ergebnissen einer aktuellen Studie, die zeigt, dass seit 1990 60 bis 70 Prozent aller neuartigen Krankheiten bei Menschen durch eine Übertragung durch Wildtiere erfolgte. Im gleichen Zeitraum vernichteten Menschen Regenwald in der Größe von ungefähr siebenmal der Fläche von Großbritannien.3 Die Covid-19-Pandemie ist natürlich nicht unmittelbar und direkt vom Menschen gemacht, jedoch ist sie auch nicht bloßes Schicksal. Wie es der obige schon zitierte Artikel auf den Punkt bringt:»Weil die Massentierhaltung zunimmt, der Planet sich aufheizt, Menschen in Städte drängen und rasch um die Welt reisen können – alles charakteristisch für das Menschenzeitalter –, haben es gefährliche Krankheitserreger heute so leicht wie nie, für eine Katastrophe zu sorgen.« Bei all dem ist zu bedenken, dass die Covid-19-Pandemie mit einem anderen Erreger noch viel dramatischer hätte ausfallen können. Während die Sterblichkeitsrate, die sogenannte Letalität, bei Covid-19 nach bisherigen Berechnungen unter 1 Prozent liegt, lag die Letalität des MERS-Virus, das 2012 in Saudi-Arabien und 2015 in Südkorea ausbrach und das glücklicherweise frühzeitig eingedämmt werden konnte, be