1. KAPITEL
Juliet Newcome war gerade auf dem Sprung, ihre Wohnung zu verlassen. In diesem Moment klingelte das Telefon. Fast wäre sie nicht an den Apparat gegangen, denn ein mit Terminen angefüllter Tag lag vor ihr. Allerdings war es ihr noch nie leicht gefallen, das Schrillen des Telefons zu ignorieren. So kehrte sie seufzend um und nahm den Hörer ab.
„Julie? Ich bin es“, meldete sich ihre Mutter mit erregter Stimme. „Gut, dass ich dich erreiche, ich fürchtete schon, du wärst bereits auf dem Weg zur Arbeit. Und ich muss sofort los, wenn ich den Zug nach London noch erwischen will, und dann dauert es wieder eine Ewigkeit, von dort nach Heathrow zu gelangen. Oh, ich hasse es, zu reisen.“
Stirnrunzelnd sagte Juliet: „Langsam, Mum. Wovon sprichst du überhaupt? Wo willst du denn hinfahren?“
„Na, das ist es doch gerade! Ich habe es selbst erst heute Morgen erfahren … nein, gestern Abend, nein, eigentlich mitten in der Nacht.“
Shirley Mendellis etwas zusammenhanglose Rede überraschte ihre Tochter nicht im Geringsten. Daran war sie gewöhnt.
Insgeheim war Juliet froh, diese sprunghafte Art nicht geerbt zu haben. Äußerlich sah sie ihrer Mutter sehr ähnlich, beide waren groß und schlank, hatten dichtes kastanienbraunes Haar, blaue Augen sowie ebenmäßige Gesichter und makellose Haut. In ihrem Temperament waren sie jedoch grundverschieden. Juliet war ruhig und vernünftig, Shirley impulsiv und unpraktisch.
„Was hast du gehört?“, fragte Juliet ruhig, doch das konnte natürlich den Redestrom ihrer Mutter nicht eindämmen – wenn man sie unterbrach, dauerte es noch länger.
„Ich versuche doch, es dir zu erklären, Juliet. Bitte hör mir zu“, bat Shirley jetzt. „Heute früh um drei klingelte das Telefon. Ich bin aus tiefstem Schlaf hochgeschreckt. Natürlich ist es unmöglich, um diese Zeit einen Flug zu buchen. Deshalb ging ich wieder ins Bett, aber ich konnte nicht einschlafen. Also bin ich wieder aufgestanden, habe meinen Koffer gepackt und aufgeräumt. Danach habe ich den ersten Flug nach Italien gebucht.“
„Italien?“ Juliet erschrak. „Es geht also um Giorgio? Ist er krank?“
Ihr Stiefvater hielt sich seit einigen Wochen in Italien auf. Zweimal jährlich unternahm er Einkaufsfahrten für die kleine Ladenkette, die ihnen gemeinsam gehörte. Sie verkauften erstklassige handgefertigte Schuhe und andere luxuriöse Lederwaren. Erst gestern Morgen hatte Juliet mit ihm telefoniert. Da war er bester Laune gewesen. Was immer sich danach ereignet hatte, es musste völlig unerwartet geschehen sein.
„Festgenommen!“, rief Shirley dramatisch.
„Festgenommen? Giorgio? Aber weshalb, um Himmels willen?“
Juliet konnte sich Giorgio beim besten Willen nicht als Gesetzesbrecher vorstellen. Er war einfach nicht der Typ dazu, er liebte das angenehme Leben zu sehr. La dolce vita. Für ihn bedeutete das gute Kleidung, ein gemütliches Zuhause, ein schickes Auto, eine Frau, die ihn liebte und ihm jeden Wunsch von den Augen ablas, exklusives Essen, edlen Wein, die Zigarre nach dem Dinner.
Juliet hatte Giorgio immer für einen der glücklichsten Menschen gehalten. Obwohl schon über sechzig, war er immer noch sehr attraktiv mit seinem silbergrauen Haar und den dunklen Augen, der stets gebräunten Haut und seinem charmanten Wesen. Ihre Mutter betete ihn geradezu an, und auch er schien sie sehr zu lieben.
„Warum weiß ich nicht, Julie“, jammerte Shirley jetzt. „Ich konnte es nicht herausbekommen. Zuerst habe ich mit einem Polizisten gesprochen, der irgendwas von Übertretung der Verkehrsregeln sagte. Er hatte einen scheußlichen Akzent. Durch den Schock haben mich meine Italienischkenntnisse ziemlich im Stich gelassen, und ic