: Nadja Bucher
: DIE DODERER-GASSE ODER HEIMITOS MENSCHWERDUNG
: Milena Verlag
: 9783903184749
: 1
: CHF 13,50
:
: Erzählende Literatur
: German
: 224
: kein Kopierschutz
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Wir schreiben das Wien der Achtzigerjahre. Das Unglaubliche nimmt Gestalt an: Heimito von Doderer wird wiedergeboren. Damit nicht genug, stößt auch bald Adolf Loos dazu, ebenfalls wiedergeboren. Nicht unwesentlich dabei: Beide dürfen nun erleben, was es heißt, ein Mädchen zu sein! Heimito von Doderer wird zehn Jahre nach seinem Tod im Körper eines Mädchens namens Marie am Wiener Stadtrand wiedergeboren. Die zeitgenössische Architektur, die Gefangenschaft in einem weiblichen Körper, alles erregt Doderers Widerwillen. Doch er sieht in seiner Widergeburt auch die Chance, endlich sein Opus Magnum, den Roman No. 7/III zu beenden. Zuvor gilt es aber, Marie den Windeln zu entwöhnen, ihr Schreiben beizubringen und ihr seinen Roman zu suggerieren. Leider hapert es irgendwie mit seiner Einflussnahme auf das Kind, Marie ist renitent. Im Kindergarten schließt Marie Freundschaft mit Isa und Doderer entdeckt Adolf Loos, der in Isa wiedergeboren wurde. Während die Mädchen gemeinsam ihr Leben in der Großfeldsiedlung zu meistern suchen, klären die beiden intellektuellen Vertreter einer überlebten Welt den Sinn ihrer Existenzen. Die 80er-Jahre in Stahlbetonbauten. Marie und Isa singen zwischen Waldsterben, Hungersnöten in Afrika und Tschernobyl von 'Ein bisschen Frieden' und 'We are the World'. Nadja Bucher schreibt im originalen Stile Doderers eine unfassbar originelle Geschichte. 'Aus meinem Leben als Romancier wusste ich über langwierige Vorarbeiten Bescheid, jahrzehntelange Annäherungen am Weg zum großen Werk, welches sich aus vielen Teilabschnitten zusammensetzte. Meine Arbeit mit Marie erinnerte mich daran, wie zahlreich und winzig jene Schritte waren. Dies war ein regelrechtes Lehrstück in Geduld, denn während ich schon bereit für die Verschriftlichung meines Konzepts des Romans No. 7/III war, musste sie sich noch das Alphabet aneignen. Man kann eben keine Fenster in ein Haus ohne Fundament setzen.'

Nadja Bucher Geb. 1976 in Wien. Studium der Germanistik und Kunstgeschichte an der Universität Wien und University of Sussex. Langjährige Beschäftigung mit dramatischen und performativen Textformen, zahlreiche Prämien und Auszeichnungen. 2011 erschien der höchst originelle Debütroman Rosa gegen den Dreck der Welt (Milena), 2013 Die wilde Gärtnerin (Milena). Werkliste: DIE DODERER-GASSE ODER HEIMITOS MENSCHWERDUNG (2020) Die wilde Gärtnerin (2013) Rosa gegen den Dreck der Welt (2011)

I. ZUR WELT KOMMEN


GRELLES LICHT BLENDETE MICH. Noch nie erlebtes Schmerzausmaß. Atemnot, die den Brustkorb einschnürt. Was blenden mich diese Idioten denn so? Todespanik. Etwas war nicht, wie es meinem Empfinden nach hätte sein sollen.

Erinnerungen stiegen heran, als blätterte ich durch ein Familienalbum mit sepiafarbenen Fotos. Ich als kleiner Junge im Wintermantel, im Hintergrunde unser Haus in der Prein. Als Schüler in kurzen Hosen zwischen Vater und Mutter vor der Stadtwohnung. Dieser Mann trübte die Freude meiner Kindheit, eigentlich meines gesamten Lebens, er gab wahrlich keinen Anlass zu Heiterkeit. Als Jüngling in der Uniform des k.u.k. Dragoner-Offiziers, die Hand lässig am Säbelknauf. Erster Weltkrieg. Sibirische Kriegsgefangenschaft, Schreibanfänge, schöne Zeit. Ich in meiner unrühmlichen Zwischenkriegszeit. Dann die noch größere Dummheit mit dem Zweiten Weltkrieg, lange Missachtung, fehlender Erfolg.

Als Sechzigjähriger, Porträt eines Schriftstellers mit Pfeife im Mund, hohe Stirn, verbliebene Haare streng gescheitelt. Zerfurchtes Gesicht. Positionierung vor Bücherwand an Schreibtisch, der übervoll von Schriften ist, unterstreicht den Intellekt. Immer Hemd und Anzug, nie Hosenträger, manchmal Überzieher, schwungvoll geöffnet. Pfeife und Trenchcoat gehören zu mir, dem Kopfarbeiter, wie Fliege und Borsalino, erst später wurden daraus Accessoires für Kriminalbeamte. Auf wenigen Fotos lache ich. Heiterkeit steht diametral zu tiefgründigen Gedanken. Der Literat legt seine breite Stirn in Falten, reckt sein Kinn vor und denkt. Er beliebt in seinem Tun zu sitzen, was sich nachträglich auf seine Körperhaltung auswirkt. Aber er nimmt alle gesundheitlichen Opfer für sein Werk in Kauf: Schreiknötchen, Raucherlunge, Darmkrebs.

Nach langer Dunkelheit öffneten sich Augen. Schon wieder blendete gleißendes Licht. Ich versuchte den verschwommenen Blick abzuwenden. Es misslang. Ich war schmerzendem Weiß ausgesetzt. War wie gefangen in beengter Bewegungslosigkeit. Was war mit mir geschehen? Weshalb schaltete niemand die Operationslampe ab?

Ich erwachte erneut und sah klarer. Mein Blick fokussierte auf einfallendes Tageslicht an weißem Plafond, gelb-braune Farbflecken hoben sich seitlich daraus hervor, gehörten dem floralen Muster einer Tapete an, deren Hässlichkeit überbordend war. Ich hätte mich abgewendet, wäre ich dazu in der Lage gewesen. Ich trat und trampelte in mich selbst eingeschlossen, spürte einen Körper zappeln, war jedoch dumpf gelähmt.

In unmittelbarer Nähe sah ich hölzerne Gitterstäbe, davor Hände, die ungeschickt in mein Gesichtsfeld wedelten. Sie waren winzig. Dazu vernahm ich glucksende Laute, die sehr junge Menschen abzusondern belieben. Langsam sickerte eine fatale Ahnung in mich ein, wonach mich keine Operation in mein altes Leben zurückgeholt hatte. Doch dies war kein geradliniges De