: Anne Labus
: Die kleine Taschennäherei zum Glück
: Aufbau Verlag
: 9783841201010
: Kleeblatt-Träume
: 2
: CHF 3.50
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 336
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB

Vom Zauber eines Neubeginns In Lenas Leben ist nach dem plötzlichen Tod ihres Mannes Martin nichts mehr so, wie es einmal war. Nun studiert ihr Sohn in einer anderen Stadt und sie sitzt alleine in ihrer Wohnung und widmet sich dem Nähen. Denn nur an ihrer Nähmaschine vergisst Lena ihren Kummer. Völlig unverhofft erhält sie eine Einladung von Chris, Martins jüngerer Schwester, die zusammen mit ihrem Mann und den beiden Kindern eine Schaffarm im irischen Busby betreibt. Kurzentschlossen packt Lena ihren Koffer und reist in das kleine idyllische Dorf. Endlich ein Tapetenwechsel! Von der Dorfgemeinschaft in Busby wird Lena herzlich aufgenommen. Im Handarbeitskreis trifft sie auf die Weberin Kathy, mit der sie sich anfreundet und schon bald eigene Taschen entwirft und näht. Dann begegnet sie auf einer Wanderung Jack, dem Dorfarzt von Busby. Er hat die Enttäuschung über seine gescheiterte Ehe nie ganz überwinden können und bald schon hat Lena beim Gedanken an den kauzigen, verschlossenen Kerl Schmetterlinge im Bauch ... Als Chris und Dan ihr ein unverhofftes Angebot machen, muss Lena eine Entscheidung treffen. Will sie zurück in ihr altes Leben oder wagt sie doch noch einen Neuanfang?



Anne Labus, Jahrgang 1957, lebt mit ihrem Mann, dem Schriftsteller Udo Weinbörner, in der Nähe von Bonn. Nach ihrer Ausbildung zur Bankkauffrau arbeitete sie unter anderem als selbständige Fitness- und Pilatestrainerin. Die Leidenschaft für das Reisen hat sie an ihren Sohn vererbt, der auf Hawaii seinen Lebensmittelpunkt gefunden hat. Die Autorin entspannt sich beim Kochen, liebt Bergtouren und lange Strandspaziergänge. Inspirationen für ihre Romane findet sie in Irland und Italien oder auch auf Spiekeroog.

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Ihre Hand griff ins Leere. Wie eine Welle breitete sich die Angst in ihr aus, umklammerte das Herz und machte es ihr fast unmöglich, zu atmen. Er lag neben ihr, röchelte und schlug panisch um sich. Doch sie war gefangen in ihrem eigenen Körper, unfähig, sich zu bewegen, und sah hilflos mit an, wie er seinen letzten Atemzug tat.

Schweißgebadet sprang Lena aus dem Bett, stolperte im Dunkeln über ihre Hausschuhe und tastete sich Schritt für Schritt vorwärts. Sie hielt den Kopf aus dem offenen Fenster und saugte gierig die kühle Nachtluft ein. Endlich ließ die Panikattacke nach, ihr Puls verlangsamte sich, und sie konnte wieder durchatmen.

Lena versuchte gar nicht erst, weiterzuschlafen. Die Angst würde zurückkommen, das wusste sie. Mit zitternden Händen griff sie nach Martins altem Skipullover, der auf seiner Betthälfte lag. Sie streifte ihn über ihren Schlafanzug. Noch immer hing der Geruch ihres Mannes in den Wollfasern, vermittelte ihr das Gefühl, ihn in ihrer Nähe zu haben.

Wann würden diese Alpträume endlich aufhören? Wie oft musste sie Martins Todeskampf noch durchleben?

Im Schein der Straßenlaterne schlich sie in ihr kleines Nähzimmer, schaltete nur die Lichtleiste über der Nähmaschine an und griff in den Karton, der neben ihrem Arbeitstisch stand. Sie wühlte durch abgetragene Hosen und Hemden sowie unzählige Stoffreste und zog eine zerschlissene Jeans hervor.

»Du willst mir doch nicht etwa meine absolute Lieblingsjeans wegnehmen«, hatte Martin gesagt und sich nur schweren Herzens von der ausgefransten Arbeitshose getrennt, die ihm so viele Jahre als Feierabenddress gedient hatte. Er hatte es »die Uniform ablegen« genannt, wenn er den Anzug ausgezogen, Oberhemd und Krawatte abgelegt und sich stattdessen Jeans und T-Shirt übergestreift hatte.

Vorbei, aus und vorbei! Fünfundzwanzig gemeinsame Jahre mit einem Schlag beendet! Lena schluckte ihre Tränen hinunter, kämpfte mit dem Kloß, der sich in ihrem Hals breitmachte. Entschlossen griff sie zur Schere, trennte die Hosenbeine von der Jeans, schnitt gleich große Stücke aus Vorder- und Rückseite, nähte, versäuberte. Doch irgendetwas störte sie an dem Gedanken, dass aus seiner Lieblingshose ein simpler Einkaufsbeutel werden sollte, der irgendwann lieblos im Kofferraum eines Wagens herumliegen würde. Spontan griff sie zum oberen Teil der Jeans. Vorsichtig trennte sie die Seitennähte auf, so dass Vorder- und Rückseite erhalten blieben. Aus einem Kunstlederrest schnitt sie einen schmalen Streifen für den Taschenboden zu und befestigte ihn an den Seitenteilen. Aus einem Einkaufsbeutel fertigte sie das Futter und fixierte es in der Jeanstasche. Als Verschluss diente ihr ein großer Druckknopf, den sie auf den Innenseiten des Hosenbundes anbrachte. Martins blauer Ledergürtel wurde kurzerhand zum Schulterriemen umfunktioniert.

Als vor dem Haus die Müllabfuhr mit den Mülltonnen klapperte, hob sie zum ersten Mal den Kopf von ihrer Arbeit und schaute nach draußen. Weil ihre Augen brannten und sie ihre Füße vor Kälte nicht mehr spürte, kroch sie gegen Morgen ins Bett und fiel in einen kurzen, oberflächlichen Schlaf, die Jeanstasche wie ein Schmusetier im Arm.

»Sorry, Lena, habe ich dich geweckt?«, ertönte wie durch Watte die Stimme ihrer Schwägerin am Telefon. »Es tut mir unendlich leid, dass wir nicht bei Martins Beerdigung waren. Ich hätte so gern von ihm Abschied genommen. Aber ich konnte meinen Mann doch unmöglich mit der Arbeit allein lassen.«

»Das verstehe ich«, murmelte Lena und zog den Pullover enger um ihren Körper. In Wirklichkeit verstand sie überhaupt nichts. Was konnte wichtiger sein, als der Familie bei der Beerdigung des Bruders tröstend zur Seite zu stehen? Eine peinliche Gesprächspause entstand.

»Ist Tobi wieder zurück nach Aachen?«, wollte Christina wissen, und als Lena ihr erzählte, dass ihr dreiundzwanzigjähriger Sohn eifrig an seiner Masterarbeit schreibe und direkt nach der Beerdigung gefahren sei, lenkte Chris sofort ein: »Wie schrecklich! Dann bist du ja allein in dem großen Haus.«

»Ach, halb so schlimm. Das geht schon. Muss ja«, raunte Lena mit belegter Stimme und hätte das Gespräch am liebsten beendet. Was sollte sie der Schwester ihres Mannes sagen, die seit zehn Jahren in Irland lebte und sich nur alle paar Monate per E-Mail meldete? Diese Entfernung zwischen ihnen ließ sich mit einem Telefonat nicht überbrücken. Der Höflichkeit halber fragte Lena aber nach den Zwillingen und wollte wissen, wie das Wetter in Irland sei.

»It’s nice between two showers, dieses abgedroschene Sprichwort trifft es wahrscheinlich am besten. Für April ist es schon angenehm mild. Aber davon musst du dir selbst ein Bild machen. Deshalb rufe ich an. Komm zu uns nach Busby. Du kannst in unserem kleinen Gästehaus wohnen, solange du willst. Der irische Wind wird dir die Sorgen aus dem Kopf blasen, und du kommst zur Ruhe. Die Zwillinge würden sich freuen, Dan und ich natürlich auch. Ich möchte dir so gern zeigen, wie wir leben, mit dir am Strand spazieren gehen und dich verwöhnen. Bitte sag Ja!«

Lena schwieg und starrte aus dem Fenster. Dieses Jahr würde sie das Beet ohne Martins Hilfe umgraben …

»Lena, bist du noch dran?«

»Ich kann doch das Haus und den Garten nicht allein lassen.« Ihr schwacher Versuch, die Einladung auszuschlagen.

»Doch, das kannst du! Gib deiner Nachbarin den Schlüssel, und dann komm. Martin hätte es so gewollt.« Chris konnte wirklich hartnäckig sein.

»Ich verspreche, dass ich darüber nachdenke«, murmelte Lena und beendete abrupt das Gespräch.

Auf dem Weg ins Bad blieb sie vor Martins Bild stehen. Er lächelte sie an, als wolle er ihr Mut machen. »Nur weil ich für ein paar Tage auf Dienstreise bin, musst du dich nicht hinter deiner Nähmaschine verschanzen«, hatte er gesagt, bevor er wieder einmal nach Brüssel geflogen war. »Geh mit deinen Mädels ins Kino, oder mach einen Einkaufsbummel auf der Friedrichstraße.«

Sie hatte genickt und dennoch lieber im Garten gearbeitet oder Taschen und Schürzen für den Kirchenbasar genäht. Seit sie in Berlin lebten, arbeitete Lena an drei Vormittagen im Empfangsbereich einer Massagepraxis. Mit Feuereifer hatte sie sich um die Renovierung und Neueinrichtung des Hauses im Berliner Stadtteil Frohnau gekümmert und sich im Garten ausgetobt. Martin hatte es genossen, nach einem langen Arbeitstag nach Hause zu kommen und von ihr kulinarisch verwöhnt zu werden. Manchmal hatte er sie nach Brüssel mitgenommen, wo sie durch die Stadt gebummelt war und Museen besucht hatte, während Martin Sitzungen geleitet und auf europäischer Ebene verhandelt hatte.

»Ihr seid doch nicht normal«, hatte ihr Sohn eines Sonntagnachmittags gesagt, als sie wie zwei frisch verliebte Teenager auf der Couch gesessen und sich geküsst hatten. »Die meisten Eltern meiner Kumpels sind geschieden.« Er hatte sie angegrinst und gesagt: »Weitermachen«, bevor er das Haus verlassen hatte.

Lena strich zärtlich über das Bild ihres Mannes und beschloss, die Einladung der Schwägerin mit ihrer Nachbarin und besten Freundin Susanna zu besprechen. Gleich nach dem Frühstück würde sie zu ihr gehen. Während sie lustlos in ihrem Müsli herumstocherte, klingelte es an der Haustür, und kurz darauf wurde die Tür aufgeschlossen. »Ich bin’s!«, ertönte Susannas Stimme. »Deine Wohnzimmerrollos sind immer noch unten, da habe ich mir Sorgen gemacht.«

Seit Martins Tod kümmerten sich Susanna und Klaus rührend um Lena, brachten ihr regelmäßig einen Eintopf vorbei oder baten sie zum Essen zu sich. Die pensionierten Lehrer wohnten im Nachbarhaus und waren seit Lenas und Martins Einzug ihre besten Freunde. Damals waren sie mit Brot und Salz vor der Tür gestanden und hatten die neuen Nachbarn zum Grillen eingeladen. Während Martin und Klaus schon bald ihre gemeinsame Leidenschaft für das Schachspielen entdeckt hatten, hatte Susanna Lena zum Frauentreff in die Kirchengemeinde mitgenommen und ihr das Nähen beigebracht.

»Komm, setz dich, und trink einen Kaffee mit mir«, bat Lena ihre Freundin und rückte ihr einen Stuhl zurecht.

»Hast du wieder die halbe Nacht im Nähzimmer gehockt?« Susanna strich ihr besorgt über die Wange. »Willst du nicht doch mal...