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Zayne stand kaum einen Meter von mir entfernt, und die für Juli überraschend kühle Brise wehte ihm die Spitzen seines blonden Haars von den nackten Schultern.
Beziehungsweiseglaubte ich das zu sehen.
Langsam wurde ich blind. Mein Sichtfeld war schon stark eingeschränkt, an den Rändern konnte ich nur noch wenig bis gar nichts erkennen. Letztlich würde nur noch ein stecknadelkopfgroßer Ausschnitt bleiben. Um das Ganze noch komplizierter zu machen, war auf beiden Augen Grauer Star hinzugekommen, sodass meine Sehfähigkeit noch verschwommener und die Augen noch lichtempfindlicher waren. Dabei handelte es sich um die genetisch bedingte Krankheit namens Retinitis pigmentosa, und nicht mal das ganze Engelsblut, das durch meine Adern floss, konnte das Fortschreiten der Krankheit verhindern. Jedes helle Licht erschwerte es mir, etwas zu sehen, und schwaches Licht war auch nicht viel besser, weil dadurch alles nur schemenhaft wurde, und sobald es dunkel wurde, konnte ich kaum noch etwas erkennen.
Und da die Laternen im Rock Creek Park ausschließlich den Wanderweg hinter mir beleuchteten, war es mehr als wahrscheinlich, dass ich gar nicht sah, was ich zu sehen meinte.
Außerdem hatte ich erst vor wenigen Tagen ein höllisches Trauma durchlebt, als mir der psychotische Erzengel Gabriel, auch bekannt als derBote überlanger Monologe, eine Tracht Prügel epischen Ausmaßes verpasst hatte, und Gott allein wusste, was das mit meinen Augen angerichtet hatte.
Oder mit meinem Verstand.
Zayne könnte bloß eine Halluzination sein, ausgelöst von einem Gehirnschaden oder durch Trauer. Beides kam mir logischer vor, als meinen Augen zu trauen. Denn: Wie stand er da vor mir? Zayne war … oh Gott, er war gestorben, sein Körper war mittlerweile zu Staub zerfallen, wie bei allen toten Wächtern. Unsere Bindung, die ihn zu meinem Beschützer machte und die uns beiden Stärke und Schnelligkeit verlieh, hatte sich in dem Moment gegen uns gerichtet, als ich mir aufrichtig eingestand, wie sehr ich in Zayne verliebt war. Das schwächte ihn körperlich, und Gabriel nutzte das zu seinem Vorteil. Ich hatte Zaynes letzte Worte gehört.Schon okay. Und ich hatte mitbekommen, wie er seinen letzten Atemzug tat. Ich hatte gespürt, wie das Band, das uns als Beschützer und Trueborn zusammenhielt, innerlich riss.
Er war gestorben.
Er war tot.
Aber er war hier, er stand vor mir, und ich roch frisch gefallenen Schnee und Minze –Wintermint. Stärker denn je, als wäre die Sommerluft wintergetränkt.
Wegen dieses Duftes fragte ich mich, allerdings nur kurz, ob er vielleicht ein Geist wäre – jemand, der gestorben und übergegangen war. Wenn Seelen, die ins Jenseits übergetreten waren, nach ihren Lieben schauten, rochen die Hinterbliebenen oft etwas, das sie an die Verstorbene oder den Verstorbenen erinnerte. Parfum. Zahnpasta, Zigarren. Lagerfeuer. Es konnte alles sein, denn der Himmel … Der Himmel duftete ganz besonders. Er roch nach dem, was man sich am meisten wünschte, und ich wollte mehr als alles auf der Welt, dass Zayne noch lebte.
Jetzt nah