: Anni E. Lindner
: Die Wahrheit schmeckt nach Marzipan
: Francke-Buch
: 9783963628900
: 1
: CHF 9.90
:
: Jugendbücher ab 12 Jahre
: German
: 366
: kein Kopierschutz
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Als ob ein Tagebuch ihren Scherbenhaufen von Leben besser machen könnte! Die 16-jährige Tally hat unerwartet ihren Vater verloren und das Letzte, was sie jetzt braucht, sind die Ratschläge ihrer selbst überforderten Mutter. Oder der merkwürdigen Therapeutin, die ihr empfiehlt, ihre Gefühle aufzuschreiben! Erst als Tally zufällig Frau Möller kennenlernt, eine alte Dame mit einem Papagei sowie einer Vorliebe für Marzipan, und ihr das Foto von deren jung verschollenen Onkel in die Hände fällt, findet sie doch noch etwas, was sie zum Schreiben inspiriert. Außerdem sind da ja auch noch ihre beste Freundin Sanna und nicht zu vergessen Mr Wow, der eigentlich Timo heißt und Tally einfach nicht mehr aus dem Kopf geht. Dummerweise ist er Christ und mit diesem religiösen Quatsch kann sie so gar nichts anfangen ...

Anni E. Lindner ist Heilsarmeeoffizierin und lebt in dieser Funktion mit ihrem Mann und den sechs Kindern ein fröhliches Nomadenleben. Derzeit leitet das Ehepaar das Kinder- und Familienzentrum »Heilse« in Chemnitz.

Kapitel 2

Am nächsten Tag gehe ich wieder zur Schule. Ich muss weitermachen, die Schonfrist ist abgelaufen. Es ist schon warm, als ich aus dem Haus trete. Der Himmel ist so blau wie gestern, ein kleines bisschen verschleiert vom Morgendunst nur. Der Gehweg ist staubig, auf einem Hundehaufen sitzen dicke Fliegen. Meine Füße gehen den Weg von allein. An der Ecke zur Hauptstraße steht Sanna; ihre weißblonden Haare leuchten mit den Farben ihres Rockes um die Wette. Sie ist unheimlich hübsch, aber das glaubt sie mir nicht.

»Hey, Tally.«

Zum Glück fragt sie nicht, wie es mir geht, denn darauf wüsste ich keine Antwort. Aber Sanna kennt mich. Wir sind befreundet, seit unsere Mütter uns den Krippenerzieherinnen in die Arme drückten und verschwanden. Angeblich haben wir uns dann immer gegenseitig getröstet und in gewisser Weise tun wir das immer noch. Genau wie damals oft auch ohne Worte.

Wir gehen nebeneinanderher die Straße hinunter, über die Ampel, an den Läden und Wohnhäusern vorbei, bis wir vor dem Schulgebäude stehen. Schüler schwirren um uns herum die Treppe hinauf.

»Bist du bereit?«, fragt Sanna und schaut mich prüfend an.

Ich schiebe trotzig die Unterlippe vor und erwidere ihren Blick, ohne zu blinzeln. »Klar.«

Je tiefer wir in das Gebäude eindringen, desto beklommener wird mir zumute. Es kommt mir vor, als würden alle mich anstarren, dabei stimmt das wahrscheinlich überhaupt nicht. Von den knapp siebenhundert Schülern wissen vielleicht zwanzig, dass mein Vater vor acht Tagen, drei Stunden und siebenundzwanzig Minuten gestorben ist. Also haben die anderen keinen Grund, mich mitleidig anzugucken.

Dann sind wir im ersten Kursraum angekommen. Es sind noch nicht allzu viele Leute da, typisch für die erste Stunde. Die Hälfte des Kurses stürzt erst um kurz vor acht in den Raum, obwohl man es sich besonders bei Frau Heyme nicht erlauben sollte, zu spät zu kommen. Sie freut sich immer über Opfer, die sie direkt zur mündlichen Leistungskontrolle drannehmen kann. Ich setze mich neben Sanna auf meinen Platz und packe Biobuch, Collegeblock und Schreibzeug auf den Tisch.

»Hey, Tally, ich hab’s gerade gehört. Wie geht’s dir denn?« Jenny hockt sich auf den Stuhl zu meiner anderen Seite und