: Hallgrímur Helgason
: Eine Frau bei 1000° Roman. Aus den Memoiren der Herbjörg María Björnsson
: Tropen
: 9783608102192
: 1
: CHF 8.90
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 400
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Drei Söhne von neun Männern, das ist genug. In ihrer Garage surft die 80-jährige Herbjörg durchs Internet und begleicht letzte Rechnungen, während der Ofen für ihre Einäscherung heißläuft. Hallgrímur Helgasons neuer Roman ist ein Parforceritt durch die Geschichte des 20.Jahrhunderts: anrührend und voll isländischer Skurrilität. »Ich lebe hier allein in einer Garage, zusammen mit einem Laptop und einer alten Handgranate. Es ist wahnsinnig gemütlich.« »Ich möchte einen Termin für eine Einäscherung buchen.« »Einen Termin buchen?« »Genau.« »Aha. Ja ... wie war noch mal der Name?« »Herbjörg María Björnsson.« »Hallo? Ich kann den Namen in der Liste nicht finden. Haben Sie den Antrag auf Einäscherung schon eingereicht?« »Nein, nein. Ich möchte einen Termin für mich buchen. Für mich selbst.« »Naja, wir bearbeiten ihn nicht, bevor ... na, Sie wissen schon ... also bevor, äh ..., bevor die Leute tot sind, okay?« »Gut. Wenn es so weit ist, werde ich tot sein. Darauf können Sie sich verlassen. Also, wenn's eng wird, komme ich einfach vorbei, und ihr schiebt mich lebend in den Ofen.«

Hallgrímur Helgason, geboren 1959 in Reykjavík, besuchte nach dem Studium an der Hochschule für Kunst und Kunstgewerbe in Reykjavík für ein Jahr die Kunstakademie in München. Seinen Durchbruch feierte er 1996 mit dem Roman 101 Reykjavík, der kurze Zeit später verfilmt wurde. Es folgten die Bestseller Zehn Tipps, das Morden zu beenden und mit dem Abwasch zu beginnen (2008) und Eine Frau bei 1000° (2011). Helgason ist einer der international erfolgreichsten Autoren Islands. Zuletzt sind von ihm bei Tropen erschienen: Seekrank in München (2015) und 60 Kilo Sonnenschein (2020).
& Party«-Szene von St. Pauli. Irgendwann zog ich zu ihm und nahm einen Job in der Kneipe seines Bruders an. Kurt fuhr ein schnelles Auto, und wir liebten es, über die Elbbrücken zu donnern oder einen Abstecher nach Köln oder gar Amsterdam zu machen. Sein Vater war unter Hitler ein hohes Tier gewesen, und es war seine Weise und meine, vor einer allzu nahen Vergangenheit davonzujagen. Eines schönen Tages aber wurde ich von des lieben Gottes Pinzette aus meinem aufregenden Leben als junge Dame auf dem Kontinent gezupft und auf einen nach Fischschleim stinkenden Kutter in Island versetzt. Das muss man sich etwa so vorstellen wie Greta Garbo auf Grönlandreise. Meiner hohen Absätze wegen hatte ich größte Probleme, an Ort und Stelle wieder Fuß zu fassen, und erst jetzt sehe ich, wie schön das damals alles war. Oma Vera kam plötzlich auf die Idee zu sterben. Wir wären nicht überraschter gewesen, wenn die Hänge der Esja urplötzlich verschwunden wären. Die Leiche wurde in der Hütte Ranakofi aufgebahrt, von der kaum jemand weiß, dass sie, grasbemähnt zwischen Hof und Bootslände stehend, das älteste Haus Islands ist. Es war nur passend, dass die älteste Einwohnerin des Landes darin aufgebahrt wurde. Ich konnte dort eine Dämmerstunde mit Großmutter verbringen und hatte das Gefühl, dass sie nicht vollständig gegangen war. Hunderte Leichen hatte ich im Krieg gesehen, war aber erst zweimal vor einem mir nahen Toten gestanden. Obwohl vier ganze Tage seit ihrem Tod vergangen waren, war noch immer etwas von Oma Vera in diesem dürren Körper. Ihr Leben steckte noch in ihm wie ein saftiger Kern in einer sonst vertrockneten Blume. Ihre Seele hatte so lange zwischen diesen Knochen gehaust, dass sie sich nicht nach einem Tag schon von ihnen löste. Ihre Stimme erklang noch immer in meinem Kopf: »Ach ja, wieder ein Tag zu Daunen geworden.« Als ich aus dem Haus trat, lagen die Inseln im Westen auf dem Meer wie ein dünner Schleier über einem Teich. Meine Haare wehten vor meinen Augen, und meine Mutter bog um die Ecke. Sie hielt, und eine Weile blieben wir vor Islands ältestem Haus steif voreinander stehen. »Sie ist so ... hart«, sagte ich. »Ja, Mama war hart«, sagte sie. »Nein, ich meine, ich habe sie angefasst, und sie fühlte sich an, als wäre sie aus Holz.« Ich fand, wir sollten sie eher aufbewahren als beerdigen. Sie war eine Reliquie, die personifizierte Geschichte Islands. Das älteste Haus des Landes war gerade einmal doppelt so alt wie sie. »Tja«, sagte Mama nur und blieb an der Hausecke stehen. Ich konnte nicht auf sie zugehen, und wir schwiegen uns an. Ozeane lagen zwischen uns. Das Leben hatte uns zu Beginn des Krieges getrennt, und es bedurfte einer Hundertjährigen, um uns wieder zusammenzubringen. Endlich trat sie auf mich zu, und wir fielen uns in die Arme, zum ersten Mal seit dem Januar 1941. Bei der Beerdigung durfte ich trotzdem nicht mit im vordersten Boot stehen. Ich sollte es als Strafe akzeptieren. Trotz der Umarmung war Mutter mir noch immer gram, dass ich nicht bei ihnen im Bræ?raborgarstígur übernachtet hatte. Brüsk hatte sie mir den Jungen in den Arm gedrückt, als ich um die Mittagszeit endlich erschienen war. Ich habe kaum je etwas Schöneres gesehen als den Leichenzug am Brei?afjör?ur. Der Sarg stand im vordersten Boot, und viele andere folgten ihm in seiner Kielspur in langsamer Fahrt zwischen Schären und flachen Klippen hindurch nach Flatey. Und immer schenkte der Herr der Prozession vollkommene Windstille, und nicht ein Schuhflicken von einer Wolke stand am Himmel, wie man so sagte. In stiller Anteilnahme stellten sich die in der Ferne blauen Berge an den Bar?aströnd wie ein Trauerzug auf und neigten die Köpfe und Schultern, starrten mit frühlingsharschen Schneebrettern in die Tiefe und weinten leise Schmelzwasserbäche. »Ja, die hat sich den Tag gut rausgesucht«, war aus dem Heck zu vernehmen. Den Männern war schon der Schnaps in den Kehlen anzuhören, der dazugehörte, wenn man einen Toten über den Fjord geleitete. Manchmal kamen sie erst Tage später zurück und bekamen von ihren Frauen verdientermaßen die Leviten gelesen: »Wie lange kann man eigentlich dafür brauchen, einen armen Teufel von den äußeren Schären in unversalzener Erde zu verscharren? Und das mitten in der Fangsaison!« Mama und Fri?rik standen beim Sarg im vordersten Boot, zusammen mit Lína und Eysteinn. Ihr Gesicht war schneeweiß und das Deckhaar pechschwarz und dicht gekräuselt, es bewegte sich kaum merklich in dem trauernden Luftzug, der durch ihr Inneres zog, ebenso wie der allerfeinste Damenbart der Welt eine Spur zuckte, als der Sarg hinabgelassen wurde. Ach richtig, ich stand ja auch da, in Trauerkleidung nach der Mode der sechziger Jahre, mit Lippenstift und Handtasche, und starrte wie eine Schauspielerin auf das frische, glänzend weiße Kreuz: Verbjörg Jónsdóttir, Haushälterin 1862 - 1962