Bessere Welten Kosmopolitismus in den Geschichtswissenschaften
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Bernhard Gißibl, Isabella Löhr
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Bessere Welten Kosmopolitismus in den Geschichtswissenschaften
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Campus Verlag
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9783593434865
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1
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CHF 24.50
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Allgemeines, Lexika
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German
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405
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Wasserzeichen/DRM
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PC/MAC/eReader/Tablet
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PDF
Kosmopolitismus, ein Kernbegriff der europäischen Aufklärung, gehört zu den akademischen Modebegriffen der vergangenen Jahre. Dieses Buch lotet erstmals das heuristische Potenzial des Kosmopolitischen für die Geschichtswissenschaften aus. Im Zentrum stehen das konfliktbeladene Aushandeln von Zugehörigkeiten, Ansprüchen und Rechten, die Begegnung mit dem Anderen sowie die normative Reflexion dieser Begegnungen in einer prinzipiell von Ungleichheit und Machtasymmetrien geprägten Welt. Der Band plädiert für Kosmopolitismus als Analyseperspektive, die das konzeptionelle Instrumentarium von transnationaler und Globalgeschichte ergänzt.
Bernhard Gißibl ist wiss. Mitarbeiter am Leibniz-Institut für Europäische Geschichte an der Universität Mainz. Isabella Löhr ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Leibniz-Institut für Geschichte und Kultur des östliche Europa (GWZO).
Vorwort
Die in diesem Band versammelten Beiträge gehen zurück auf einen Workshop, der im Herbst 2013 nach dem heuristischen Mehrwert von Kosmopolitismus für die Geschichtswissenschaften fragte. Was hat es eigentlich genau mit diesem 'neuen' Kosmopolitismus auf sich, der in so vielen geistes- und sozialwissenschaftlichen Nachbardisziplinen Konjunktur hat? Ist es sinnvoll, den Begriff in den Geschichtswissenschaften wieder zu aktivieren? Oder wäre dies gleichbedeutend damit, eine Disziplin, die sich anschickt, eurozentristische Perspektiven zu überwinden, zurück in eines der ältesten Konzepte europäischer Geistesgeschichte zu drängen? Wie könnte eine zeitgemäße Verwendung von Kosmopolitismus insbesondere für die Globalgeschichte aussehen? Diese Fragen waren Gegenstand des Workshops, der gemeinsam vom Europainstitut der Universität Basel und dem Leibniz-Institut für europäische Geschichte (IEG) in Mainz ausgerichtet wurde.
Wir danken den Autorinnen und Autoren dieses Bandes für ihre Bereitschaft, sich auf die Frage nach dem analytischen Mehrwert von Kosmopolitismus für ihre eigenen Forschungen so neugierig und bereitwillig eingelassen zu haben. Für uns bedeutete dies eine Fülle an kontroversen und produktiven Diskussionen, in denen wir eine Menge von den Autoren und Autorinnen gelernt und gemeinsam unser Verständnis von Kosmopolitismus geschärft haben. Diese intellektuellen Auseinandersetzungen wurden möglich dank der großzügigen Unterstützung durch das Leibniz-Institut für Europäische Geschichte in Mainz und das Europainstitut der Universität Basel. Unser besonderer Dank gilt daher Madeleine Herren und Johannes Paulmann, den Direktoren der beiden Institute, die uns in unserem Vorhaben bekräftigten und mit Rat und Tat zur Seite standen.
Danken möchten wir an dieser Stelle auch Malte Fuhrmann, Richard Hölzl, Fabian Klose, Cornelia Knab, Carolin Kosuch, Daniel Maul und Amalia Ribi Forclaz, die uns in Mainz durch Vorträge, Diskussionsbeiträge oder als Panel Chairs halfen, Thema und Probleme zu präzisieren. Magdalena Nowicka brachte uns mit ihrer Keynote Lecture die sozialwissenschaftliche Perspektive nahe; der jüngst verstorbene Rupert Neudeck gewährte uns in seinem Abendvortrag Einblicke in den gelebten Kosmopolitismus eines humanitären Aktivisten. Die Fertigstellung des Manuskripts profitierte von der umfangreichen Unterstützung durch Manuel Dinkel und Corinna Schattauer und dem prüfenden Blick der Lektoren Joe Paul Kroll im IEG und Jürgen Hotz beim Campus Verlag. Für kritische Lektüre und wertvolle Hinweise zur Einleitung danken wir Gregor Feindt, Dietmar Müller und Klaus Oschema.
'But if you believe you are a citizen of the world, you are a citizen of nowhere. You don't understand what citizenship means'. Diese im Okto-ber 2016 von der britischen Premierministerin Theresa May gebrauchte Formulierung zeigt, dass die Politik der Gegenwart unsere wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem neuen Kosmopolitismus eingeholt hat. Was 2013 für uns in erster Linie eine fachwissenschaftliche Diskussion war, hat sich seit der rapiden Zunahme von Flüchtlingen in Europa 2014/2015 und den seitdem heftig tobenden politischen Auseinanderset-zungen innerhalb der Europäischen Union sowie in den einzelnen Mitgliedsstaaten in eine handfeste politische Krise gewandelt, die eine Zäsur in der europäischen Nachkriegspolitik bedeuten könnte. Der Zugang zu Rechten unabhängig von nationalstaatlicher Zugehörigkeit sowie Gastfreundschaft als zentraler kosmopolitischer Wert sind innerhalb wie außerhalb Europas heftig umkämpft. Kulturelle Vielfalt als Realität und gesellschaftliche Orientierung sieht sich konfrontiert mit der Forderung nach eindeutigen Identitäten. Zur Disposition steht ein offener Umgang mit Differenz und dem Anderen.
Vor diesem Hintergrund verstehen wir unseren Band auch als eine kritische Reflexion über die Frage, mit welchen Themen, Konzepten und Perspektiven die Geschichtswissenschaften im frühen 21. Jahrhundert historisches Orientierungswissen für gegenwärtige Debatten bereitstellen können. Dies kann, so unsere Überzeugung, nur über eine historischkritische Analyse der unterschiedlichen Normen, Werte und Bezugshorizon-te funktionieren, in denen sich unsere Gegenwart abspielt.
Mainz und Leipzig, im Oktober 2016
Bernhard Gißibl und Isabella Löhr
Die Geschichtswissenschaften vor der kosmopolitischen Herausforderung
Isabella Löhr und Bernhard Gißibl
'Cosmopolites de tous les pays, encore un effort!' - Weltbürger aller Länder, noch ein Versuch! Mit dieser Abwandlung des berühmten Schlusssatzes des Kommunistischen Manifests adressierte der französische Philosoph Jacques Derrida im März 1996 einen Kongress der Fluchtstädte, der sich beim Europarat in Straßburg versammelt hatte. Derridas Aufruf für eine neue Internationale der Kosmopoliten ist vor dem Hintergrund der aktuellen, sogenannten Flüchtlingskrise in Europa auch 20 Jahre nach seinem Erscheinen politisch relevant. Denn der französische Philosoph forderte damals nicht weniger als eine Neuausrichtung der europäischen Asyl- und Migrationspolitik nach den Grundsätzen kosmopolitischer Gastfreundschaft. Bemerkenswert daran ist, dass sich Derrida explizit den Begriff der Gastfreundschaft aus Immanuel Kants Schrift Zum ewigen Frieden von 1795 zu eigen machte, die er über das von Kant vorgesehene bloße Besuchsrecht hinaus zu einem dauerhaften Gastrecht erweitert wissen wollte. Einer der wichtigsten Denker der Postmoderne, der sein intellektuelles Leben daran gesetzt hatte, die philosophischen und epistemologischen Grundlagen der europäischen Aufklärung zu dekonstruieren, bezog sich also zustimmend auf den 'Geist der Aufklärung' und artikulierte politische Reformforderungen mit Hilfe eines ihrer Kernbegriffe. Offenbar unterschied Derrida zwischen der theoretischen Dekonstruktion philosophischer Weltanschauungen einerseits und dem öffentlichen politischen Diskurs mit dem Ziel der Gewährleistung konkreter Rechte andererseits.
Derridas Vorschlag einer Reform der europäischen Asylpolitik gehört in eine Reihe von Interventionen prominenter Denker, die sich seit 1989/90 mit Rekurs auf die Begrifflichkeit des Kosmopolitismus um die normative Ausgestaltung der gegenwärtigen Welt- und Gesellschaftsordnung bemühen. Diese Debatten, die seit den späten 1990er Jahren als 'Neuer Kosmopolitismus' geläufig sind, nahmen ihren Ausgang in den akademischen Welten Europas und der Vereinigten Staaten. Seit gut zwei Jahrzehnten sind daran Wissenschaftlerinnen, Wissenschaftler und öffentliche Intellektuelle jeder weltanschaulichen Couleur sowie aus allen Kontinenten und Disziplinen beteiligt - mit Ausnahme der Geschichtswissenschaften, die sich bisher auffallend schweigsam verhalten. Intellektuelle, die ihre kosmopolitischen Entwürfe explizit in den Denkzusammenhang der europäischen Aufklärung stellen wie Kwame Anthony Appiah, Daniele Archibugi, Ulrich Beck, Charles Beitz, Seyla Benhabib, Gerard Delanty, Jürgen Habermas, David Held, Martha Nussbaum, Thomas W. Pogge oder jüngst Timothy Garton Ash finden sich ebenso wie postkoloniale oder dekonstruktivistische Kritiker dieser europäischen Tradition wie Etienne Balibar, Homi K. Bhabha, Paul Gilroy, David Harvey, Bruno Latour, Walter Mignolo, Rahul Rao oder Gayatri Chakravorty Spivak. Das Themenspektrum des neuen Kosmopolitismus ist breit; ebenso seine geographische Reichweite sowie Adressaten und Kontexte. Was die Appelle dieser public intellectuals eint, ist die Verquickung von politischer und akademischer Diskussion, das Kreisen um Fragen sozialer und globaler Gerechtigkeit sowie die normative Ausgestaltung des 'Zusammengeworfenseins' in einer globalisierten und ungerechten Welt.
Während der neue Kosmopolitismus in den Geistes- und Sozialwissenschaften teils begeistert aufgegriffen wurde, fanden die Debatten in den Geschichtswissenschaften erstaunlicherweise bislang kaum Resonanz. Insbesondere transnationale und Globalgeschichte, die sich innerhalb des Faches prominent mit grenzüberschreitenden Beziehungen bzw. globalen Ordnungsentwürfen beschäftigen, haben das Begriffsfeld des Kosmopolitischen bisher weitgehend gemieden und auch nicht die Potenziale ausgelotet, die diese transdisziplinäre Diskussion für die historische Analyse birgt. Hier setzt unser Buch an. Die versammelten Beiträge erproben den heuristischen Wert eines viel diskutierten intellektuellen und wissenschaftlichen Paradigmas für die Geschichtswissenschaften. Anhand von Beispielen aus der Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts fragen die Aufsätze nach dem Kosmopolitischen in so verschiedenen Kontexten wie katholischen Missionen, im UNESCO-Welterbe, im Rahmen des transkontinentalen humanitären Engagements des ismailitischen Aga Khan-Netzwerkes und in so konflikthaften Zusammenhängen wie den jüdischen Erfahrungen in der europä-ischen Moderne. Sie analysieren Kosmopolitismus als Haltung und Kompetenz, untersuchen Governance-Konstellationen und fragen nach den Bedingungen und Grenzen kosmopolitischer Mobilität. Die Beiträge arbeiten empirisch heraus, dass Inhalte, Reichweite und Materialisierungen von Kosmopolitismen immer zeit- und raumspezifisch sind.
Der Band plädiert für eine kritisch-reflektierte Aktivierung von Kosmopolitismus als Analyseperspektive, die das konzeptionelle Instrumentarium von transnationaler und Globalgeschichte ergänzen kann. Die hier vorgeschlagene Perspektive nimmt das Spannungsfeld von Differenz und Gleichheit jenseits seiner räumlichen Ausprägungen in den Blick. Sie interessiert sich insbesondere für Momente der Grenzziehung und -überschreitung und fragt nach dem sich in diesen Situationen offenbarenden Umgang mit Diversität, Differenz und dem Anderen. Soziale Interaktionen interessieren also vor allem hinsichtlich ihrer ?Welthaltigkeit?, das heißt der in ihnen eingelassenen universalen Kontexte und Bezugsrahmen. Gefragt wird nach den damit verbundenen Prozessen der Inklusion und Exklusion, der Öffnung und Schließung sowie nach der Aushandlung individueller und kollektiver Zugehörigkeiten und Rechte. Eine so verstandene kosmopolitische Perspektive operiert nicht im Rahmen eines räumlichen, sondern eines moralischen Imperativs, der ?Menschheit? in den konkreten Ausprägungen interpersonaler Beziehungen und der herausfordernden Präsenz des Anderen untersucht.
Im Folgenden stellen wir dieses Forschungsprogramm en détail vor. Da die hier versammelten Autorinnen und Autoren ihre historischen Fallbeispiele im Kontext einer transdisziplinären Diskussion entwickeln, folgt zunächst ein Überblick über den neuen Kosmopolitismus in den verschiedenen Disziplinen. Anschließend problematisieren wir das Schweigen der Geschichtswissenschaften innerhalb dieser Debatte und plädieren für eine kosmopolitische Perspektive, die das Postulat einer konzeptionellen 'Provinzialisierung Europas' als Herausforderung annimmt. Im letzten Abschnitt skizzieren wir den konkreten Mehrwert einer kosmopolitischen Erweiterung des konzeptionellen Instrumentariums von transnationaler und Globalgeschichte und diskutieren den Beitrag, den eine ?kosmopolitisierte? Geschichtswissenschaft in den transdisziplinären Dialog einbringen kann.
Der neue Kosmopolitismus in den Sozial- und Geisteswissenschaften
Der neue Kosmopolitismus hat in den verschiedensten Disziplinen intensive Diskussionen ausgelöst. Um das Potenzial dieser transdisziplinären Diskussionen für die Geschichtswissenschaften herauszuarbeiten, skizzieren wir in diesem Abschnitt die intellektuellen Auseinandersetzungen in Politik-wissenschaften und politischer Philosophie, in den Sozialwissenschaften, den Postcolonial Studies, in der Anthropologie sowie in den Medien- und Kommunikationswissenschaften. In diesen Disziplinen, und damit gewisser-maßen an den Rändern der Geschichts-wissenschaften, wird Kosmopolitismus als Konzept gegenwärtigen gesellschaftlichen und politischen Erfordernissen angepasst und als post-euro-zentrisches Paradigma ?entprovinzialisiert?. Dieser neue Kosmopolitismus, so unsere These, bringt einen Erkenntnisgewinn für die Geschichtswissenschaften und hier insbesondere für die Globalgeschichte: zum einen neue Verständnisse des Kosmopolitischen und zum anderen neue Themen für die historische Forschung.
In der politischen Philosophie und der internationalen politischen Theorie manifestierte sich der neue Kosmopolitismus unter anderem in Diskussionen über globale (Verteilungs-)Gerechtigkeit und die soziale sowie politisch-geographische Reichweite der Gültigkeit ethischer Gerechtigkeitsgrundsätze. Wem gegenüber müssen Individuen, Gesellschaften und Staaten ihr Handeln und dessen Konsequenzen legitimieren? Welche Pflichten haben sie gegenüber anderen und wem schulden sie Gerechtigkeit? Diese Debatten bilden zeitlich die tiefste Wurzel des neuen Kosmopolitismus. Sie entspannen sich als Antwort auf John Rawls' einflussreiche Theorie der Gerechtigkeit von 1971, die Gerechtigkeitspflichten in erster Linie innerhalb nationalstaatlich organisierter Kollektive als verbindlich annahm. Das Ende der Systemkonkurrenz nach 1989/90 und nicht zuletzt auch das 200-jährige Jubiläum der Kant'schen Friedensschrift im Jahr 1995 verliehen der philosophischen Diskussion um das Verhältnis von Universalismus und Partikularismus sowie um die Vereinbarkeit von Nationalstaat und Kosmopolitismus zusätzlichen Schwung. Anders als Rawls vertreten beispielsweise Charles Beitz, Thomas W. Pogge oder Seyla Benhabib einen moralisch-universalistischen Ansatz, der jedem Individuum moralische Relevanz beimisst und entsprechend Gerechtigkeitsverpflichtungen gegenüber jedem einzelnen einfordert.
Die Diskussion um die Reichweite kollektiver sowie individueller Rechte und Verpflichtungen wurde mit besonderer Vehemenz in den USA geführt. Ihre Aneignung in der politischen Philosophie anderer Weltregionen führte zu einer kulturellen Ausdifferenzierung und machte sichtbar, dass das problematische Verhältnis von Kosmopolitismus, Individuum und (National-)Staat spezifisch für den transatlantischen Raum ist. Andernorts folgte das Nachdenken über Pflichten gegenüber dem Anderen ganz anderen Parametern. Intellektuelle mit afrikanischen Hintergrund diskutieren zum Beispiel seit einigen Jahren unter dem Schlagwort Afropolitismus über die moralische und kulturelle Position Afrikas in der Welt. Der kamerunische Intellektuelle Achille Mbembe versteht unter Afropolitanismus eine für die afrikanische Erfahrung charakteristische, transkontinentale 'Zirkulation der Welten'. Als Konsequenz dieser Zirkulation bezeichne Afropolitanismus eine spezifische 'kulturelle, historische und ästhetische Empfindsamkeit', das Wissen um die 'Verfugung des Hier mit dem Anderswo, das Wissen um die Gegenwart des Anderswo im Hier'.
In den Sozialwissenschaften lag seit 1990 ein deutlicher Akzent auf Forschungen zur institutionellen Ausgestaltung einer gerechten Weltordnung. Besonders Soziologen begannen über Formen zukünftiger Weltregierung nachzudenken, was unter anderem Entwürfe kosmopolitischer Governance und mögliche Reformen des UN-Systems beinhaltete. Auch Organisation und Reform der Europäischen Union dienten als prominente Bezugspunkte für Modelle einer kosmopolitischen Demokratie. Darüber hinaus erweiterten einige soziologische Beiträge die Analyse kosmopolitischer Prozesse um konzeptionelle Überlegungen mit dem Ziel, die Grundlagen des Faches neu zu denken. Insbesondere der deutsche Soziologe Ulrich Beck verband die Diskussion über eine kosmopolitische Neugestaltung Europas eng mit einer Reform des methodischen Instrumentariums seiner Disziplin. Diese, so diagnostizierte Beck, sei unter anderem deshalb unfähig, Europa kosmopolitisch zu denken, weil ihre Analysen methodisch dem nationalstaatlichen Container verhaftet seien. Ein 'kosmopolitischer Blick' sowie ein 'methodologischer Kosmopolitismus' seien daher notwendig, um grenzüberschreitende Interaktion und die alltägliche Präsenz des kulturell und sozial An-deren wahrnehmen und kognitiv verarbeiten zu können.
Seit den 1990er Jahren waren es neben Ulrich Beck, Jürgen Habermas und Daniele Archibugi vor allem britische Soziologen - David Held, Gerard Delanty, Chris Rumford -, die sich für eine kosmopolitische Ausgestaltung Europas stark machten. Zentrale Themen waren dabei die Relativierung der Rolle der Nationalstaaten innerhalb der Europäischen Union durch die Stärkung demokratischer Partizipationsmöglichkeiten ober- und unterhalb der nationalen Ebene, aber auch das Spannungsverhältnis zwischen der Ermöglichung von Freizügigkeit nach innen und zunehmender Abschottung an den Außengrenzen Europas. Diese Konzentration auf Europa brachte die Diskussionen um den neuen Kosmopolitismus deutlich voran. Sie bedeutete nämlich eine Abkehr von einem universalistischen Verständnis von Welt und Menschheit hin zur Analyse einer konkreten sozio-politischen Formation. Damit verbunden war allerdings eine Vermischung von wissenschaftlicher Analyse mit politischen Handlungsanweisungen, die idealistische Züge trug und durchaus problematisch werden konnte, sobald eine durch und durch positive Lesart von Kosmopolitismus Ungleichheiten und Machtasymmetrien ausblendete oder diese verschleierte. Viele der kosmopolitischen Analysen und Entwürfe in den Sozialwissenschaften waren nämlich beseelt vom Wunsch einer zukünftigen politisch-moralischen Führungsrolle Europas in der Welt. Das politische Projekt der Europäischen Union wurde so zum Laboratorium einer kosmopolitischen Demokratie, deren Umsetzung als weltpolitische Zukunftsaufgabe Europas nach dem Ende des Kalten Krieges verstanden wurde. Wenige gingen allerdings so weit wie Beck, der 2005 die politische Umgestaltung Europas zu einem gutartigen 'kosmopolitischen Empire' vorschlug. Er imaginierte Europa als kooperative Struktur nach Innen und Außen, deren Zivilisierungsmission in der Verkündigung des 'europäischen Wunders' friedlicher Konfliktbewältigung bestehen sollte - als expliziter Gegenentwurf zum US-amerikanischen evil empire und seinem weltweiten Feldzug gegen den islamistischen Terror nach den Anschlägen vom 11. September 2001.
Die Postcolonial Studies begegneten dem neuen Kosmopolitismus mit großer Skepsis. In ihren Augen ist der vermeintlich neue kein neuer, sondern der ?alte? europäische Kosmopolitismus. Dieser hatte bereits europäische Expansion und asymmetrische Machtstrukturen legitimiert und diene auch in seiner vermeintlichen Neukonfiguration - Homi K. Bhabha spricht idealtypisch von einem 'globalen Kosmopolitismus' - nur als ethisches Feigenblatt für die Perpetuierung der Hegemonie des westlichen Kapitalismus unter marktliberalen Vorzeichen. Gleichwohl taucht der Begriff bei führenden postkolonialen Theoretikern wie eben Bhabha, Dipesh Chakrabarty, Walter Mignolo, Rahul Rao oder Gayatry Chakravorty Spivak nicht nur als neoliberales Schreckgespenst auf. Kosmopolitismus wird ernsthaft und konstruktiv diskutiert mit dem Ziel, westliche Begriffsverständnisse durch emanzipatorisch-subversive Anliegen zu dezentrieren. In einer wenig rezipierten Passage seines Klassikers The Location of Culture stellt Bhabha beispielsweise dem globalen Kosmopolitismus sein Ideal eines vernacular cosmopolitanism entgegen: Ein Kosmopolitismus der Flüchtlingsunterkünfte und Minderheiten, der geprägt ist, in den Worten Etienne Balibars, vom Anspruch auf ein 'Recht auf Unterschiedlichkeit in Gleichheit'. Differenz und der Umgang mit dem Anderen ist hier zentral, steht politisch aber unter den Vorzeichen einer radikalen Kritik an wirtschaftlichen Machtasymmetrien und kulturellen Essentialismen. Wie Sheldon Pollock, Homi K. Bhabha, Carol A. Beckenridge und Dipesh Chakrabarty im Jahr 2000 in einem manifestartigen Aufsatz Cosmopolitanisms formulierten, erscheinen Andersheit und Differenz nicht als Optionen. Als Folge der mit dem Kolonialismus gewaltsam über die Welt gebrachten westlichen Moderne sind sie zugleich alltäglich und existentiell. In dieser Lesart steht ein kulturelles Verständnis von Kosmopolitismus als Wertschätzung von Vielfalt im Verdacht einer Re-Essentialisierung von Kulturen. Die Betonung des Individuums als entscheidender Instanz in moralischen und rechtlichen Kosmopolitismus-Entwürfen wiederum beruht auf einem westlichen Individualismus, der mit anderen, auf Gruppenidentitäten basierenden Emanzipationsbewegungen in Konflikt stehen kann. Wenngleich Kosmopolitismus also im Verdacht steht, einer liberalen Fetischisierung des Individuums nach westlicher Prägung Vorschub zu leisten, birgt aber genau dieser Individualismus auch ein strategisches Potenzial zur Artikulation von Rechten. Das postkoloniale Projekt beschränkt sich damit nicht nur auf die Dekolonisierung und subversive Analyse von Kultur und den epistemischen Registern westlicher Welterfassung. Mit dem Kosmopolitismus verfügt es auch über eine Sprache zur Einforderung konkreter Rechte - grenzüberschreitend und innerhalb der Gesellschaften des globalen Südens. Die postkoloniale Aneignung des Begriffes bedeutet so das politische Unternehmen, Kosmopolitismus in einen Kampfbegriff für die eigene Sache zu verwandeln.
Die Geschichtswissenschaften können aus der postkolonialen Rezeption des neuen Kosmopolitismus zwei Aspekte für die eigene Forschung ziehen. Erstens verschieben die postkolonialen Denker den Blick von Zukunftsentwürfen für politische Gemeinwesen auf die faktische Präsenz und Unhintergehbarkeit von Differenz und daraus resultierender Formen von Ungleichheit. Ihr analytischer Schwerpunkt liegt auf der sozialen Wirkung von Ungleichheit und Machtasymmetrien. Kosmopolitismus beschreibt damit nicht nur normative oder institutionelle Dimensionen, sondern die permanente und konfliktreiche Verschiebung der Grenzen von Inklusion und Exklusion, die Individuen und Gruppen jeder sozialen, politischen, kulturellen oder religiösen Couleur gleichermaßen betrifft oder betreffen kann. Das heißt, ein postkolonial sensibilisierter Kosmopolitismus untersucht die Qualität von Beziehungen auf lokaler, regionaler oder globaler Ebene, stellt die Produktion und Markierung von Differenz ins Zentrum und untersucht konkrete Praktiken von Emanzipation und Teilhabe. Damit geht zweitens eine konzeptionelle Erweiterung einher: Neben die empirische Analyse kosmopolitischer Phänomene oder Prozesse tritt Kosmopolitismus als Untersuchungsperspektive. Diese arbeitet rivalisierende Vorstellungen und Praktiken von Grenzziehungen, Teilhabe und Ausschluss heraus und analysiert soziales Handeln auf die darin eingelassenen universalen Ansprüche und Bezugsrahmen. Aus einem aufgeklärten Kosmopolitismus europäischer Prägung werden so polyzentrische, sich überlagernde und konfligierende kosmopolitische Praktiken, die immer zeit- und raumspezifisch sind.
Die postkoloniale Kritik am Kosmopolitismus erwies sich besonders für Ethnologie und Anthropologie als relevant. Deren Selbstverständnis als Experten für kulturelle Diversität und Fremdverstehen war im Zuge der Kritik an der kolonialen Komplizenschaft und dem statisch-homogenen Kulturverständnis des Faches seit den 1970er Jahren in eine tiefe Legitimationskrise geraten. Die Rezeption des neuen Kosmopolitismus traf in der Anthropologie auf ein nunmehr postkolonial dynamisiertes Kulturverständnis, das dem Fach die Rolle eines wichtigen transdisziplinären Korre
Die Geschichtswissenschaften und der Kosmopolitismus: eine Leerstelle?
In die geschichtswissenschaftlich
Ein Grund für die Zurückhaltung der globalhistorischen Forschung liegt sicherlich in der problematischen Begriffsgeschichte. Seit dem
Dank
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