: Isabel Kusche
: Politischer Klientelismus Informelle Macht in Griechenland und Irland
: Campus Verlag
: 9783593433936
: 1
: CHF 40.80
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: Vergleichende und internationale Politikwissenschaft
: German
: 323
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: PDF
Im Zuge der Griechenland-Krise ist in Politik und Medien wiederkehrend die Rede vom politischen Klientelimus. Selten wird jedoch genauer dargestellt, worum es sich dabei handelt und inwiefern es ein problematisches Phänomen - und nicht einfach Teil der Normalität demokratischer Politik - ist. Isabel Kusche gibt einen Überblick über den Stand der internationalen Forschung und arbeitet deren theoretische Defizite heraus. Unter Rückgriff auf die Differenzierungstheorie und in kritischer Anknüpfung an frühe Arbeiten Niklas Luhmanns deutet sie klientelistische Strukturen als spezifische Variante informeller politischer Macht. Über den Vergleich von Griechenland und Irland wird das Phänomen im europäischen Kontext verständlich.

Isabel Kusche ist Associate Professor und Fellow am Aarhus Institute of Advanced Studies der Universität Aarhus in Dänemark.
1. Einleitung
Aus Anlass der griechischen Parlamentswahlen im Mai 2012 fand sich in 'Le Monde Diplomatique' eine anschauliche Illustration dessen, was seit Ausbruch der europäischen Finanzkrise und speziell der Krise in Grie-chenland vermeintlich Teil des Allgemeinwissens ist, nämlich was Kliente-lismus ist:
'Früher hat jeder aussichtsreiche Bewerber für das griechische Parlament (Vouli genannt) auf Wochen hinaus einen Laden gemietet, beflaggt mit Parteifahnen, voll mit Stapeln von Wahlbroschüren. Diesmal sparten sich die Kandidaten die Miete, die sie vom Privatkonto finanzieren mussten. Zum einen aus Angst vor den Glaserrechnungen, denn die Büros hätten die Wutbürger angezogen wie der Honigtopf die Bienen. Zum anderen weil so ein Ort nutzlos geworden ist. Im Kandidatenladen konnte der Wähler seinen künftigen Abgeordneten aufsuchen und die Gegenleistung für seine Stimme aushandeln: einen Auftrag für seinen Kleinbetrieb, eine Stelle für den Sohn beim staatlichen Stromversorger, eine Empfehlung für die Tochter an den parteinahen Universitätsprofessor. Das spielte sich keineswegs im Geheimen ab. Jeder konnte sehen, wer mit wem ins Geschäft kam oder kommen wollte.
Die öffentliche Kontaktzone zwischen Volk und Volksvertreter war die Kernzelle des Klientelsystems - solange es Aufträge und Posten zu verteilen gab. Seit Stellen im öffentlichen Sektor nicht mehr besetzt, sondern gestrichen werden, ist der Klientelismus tot oder doch auf dem Weg ins verdiente Grab.' (Kadritzke 2012: 12)
Derart anschauliche und konkrete Darstellungen sind die Ausnahme: Stichworte wie Korruption und Klientelismus werden zwar im Zusam-menhang mit Berichten über die Schuldenkrise immer wieder genannt, dienen aber, gemeinsam mit dem Verweis aufs Schuldenmachen, eher als Etikett für die vielfältigen Probleme von Politik und staatlicher Verwaltung in bestimmten Ländern, als dass sie diese Probleme erklären würden. Implizit scheinen sich die meisten Beiträge darauf zu verlassen, dass alle eine hinreichend konkrete Vorstellung davon haben, worum es sich bei Erscheinungen wie Korruption oder Klientelismus handelt. Im Falle von Korruption mag das noch einleuchten - vor dem inneren Auge taucht vielleicht ein mit Banknoten gefüllter Briefumschlag auf, der bei einem Zusammentreffen zwischen einem Verwaltungsbeamten und einem Antragsteller oder zwischen einer Politikerin und einer Unternehmerin mehr oder weniger diskret überreicht wird. Dass solche Praktiken nicht gerade ein Ausweis für gute Politik und einen verlässlichen Staat sind, leuchtet wohl ein, und man mag sich allenfalls fragen, weshalb man dann nicht schon längst hätte wissen können, was inzwischen alle zu wissen scheinen, nämlich dass das auf Dauer nicht gut gehen kann.
Welche Assoziationen die Rede von Klientelismus hervorruft, ist weni-ger klar. Gelegentliche Hinweise deuten auf '[p]olitische Parteien, die sich ihre Unterstützung in griechischer Manier mit teuren Wahlgeschenken zu erkaufen versuchten' (Fuster 2012). Wie verheerend das offenbar sein kann, macht aber erst der Verweis auf Griechenland anschaulich, denn für sich genommen sind teure Wahlgeschenke in der Vergangenheit auch in Deutschland immer wieder einmal kritisiert oder gar skandalisiert, aber nie als Praktik ausgewiesen worden, die das Funktionieren von Staat und Politik insgesamt gefährden könnte.
Präziser ist ein anderer Hinweis, was eine Politik des Klientelismus be-inhalte: 'Marode Privatfirmen wurden verstaatlicht und mit Parteian-hängern besetzt, um sich deren Stimmen zu sichern' (Panagiotidis 2012). Anderswo ist etwa vom 'Klientelismus zwischen Politik und Bauwirt-schaft' (o.N. 2012) die Rede. Und auch mit Bezug auf Deutschland werden Beispiele für Klientelismus identifiziert, so etwa eine vom FDP-Vorsitzenden vorgeschlagene Erhöhung der Pendlerpauschale oder das aus Rücksicht auf die CSU eingeführte Betreuungsgeld für Familien mit Unterdreijährigen, die diese zu Hause betreuen (Riedel 2012).Zusammengefasst scheint Klientelismus in der aktuellen Debatte für alles von Subventionswirtschaft über persönliche Beziehungen zwischen Politikern und Unternehmern bis hin zu bestimmten Formen des Werbens um Wählerstimmen zu stehen. Seine Konnotation ist eindeutig negativ. Mit Bezug auf Griechenland (und zum Teil andere südeuropäische Länder wie Italien) erscheint Klientelismus als Teil eines Syndroms, das offenbar die Funktionsfähigkeit von Staat und Politik in Frage stellt. Diese Verbindung wird aber in der massenmedialen Berichterstattung erst hergestellt, seit sich die Geschehnisse in Griechenland als umfassende Staatskrise beschreiben lassen. Wenige Jahre zuvor galt Griechenland noch als normales Mitglied der Europäischen Union, vielleicht mit mehr Problemen als manch andere EU-Mitgliedsstaaten, aber doch soweit, dass niemand jene Krise prognostiziert hätte, die nun als unvermeidliche Konsequenz von Korruption und Klientelismus erscheint. Gleichzeitig wird das scheinbar gleiche Phänomen in Deutschland ausgemacht, ohne daraus zu schlussfolgern, dass dort demnächst mit griechischen Verhältnissen zu rechnen wäre. Gerade ange-sichts der jüngsten Ereignisse in Europa stellt sich also die Frage, welche Rolle politischer Klientelismus in demokratischen politischen Systemen spielt. Untergräbt Klientelismus das Funktionieren von Staat und Politik? Oder ist er einfach eine, vielleicht nicht besonders erfreuliche, aber durchaus normale Begleiterscheinung von Politik? Orientiert man sich nicht an der massenmedialen Debatte, sondern an der sozialwissenschaftlichen Forschung, finden sich zwei typische Antworten, die jeweils die eine der beiden Fragen bejahen und die andere verneinen. Dabei überwiegt der negative Blick auf politischen Klientelismus, der ihn teils als Variante politischer Korruption (Scott 1969), teils als Vorstufe zu ihr versteht (Mény 1997) oder zumindest in engem Zusammenhang mit ihr sieht (DellaPorta 1997: 36ff.). Andere Autoren normalisieren politischen Klientelismus dagegen als eine Form politischer Interessenvertretung, deren spezifische Vor- und Nachteile sich im Vergleich zu anderen Formen benennen lassen (Piattoni 2001c).
1.1 Politischer Klientelismus zwischen Korruption und demokratischer Normalität
Korruption ist ein wiederkehrendes Thema der sozialwissenschaftlichen Forschung. Mit jeder neuen Konjunktur des Themas stellen sich Fragen der Definition des Phänomens. Weit verbreitet ist der Vorschlag, Korrup-tion als Missbrauch anvertrauter Macht zum privaten Vorteil aufzufassen (Johnston 1996: 322). Die Definition unterscheidet zwischen einem ange-messenen Machtgebrauch und Machtmissbrauch und wirft damit notwen-dig die Frage auf, was angemessen ist und was nicht. Das Rechtssystem, das Delikte wie die Bestechung von Amtsträgern oder die Gewährung von Vorteilen unter Strafe stellt, benennt zwar auf diese Weise bestimmte Varianten des Missbrauchs anvertrauter Macht. Eine sozialwissenschaftliche Korruptionsforschung, die sich einer legalistischen Perspektive verschriebe, würde aber von vornherein vieles aus der Betrachtung ausschließen, was andere als rechtliche Beobachter durchaus als Korruption betrachten.
Dabei kann es sich um Nicht-Regierungsorganisationen wie Transpa-rency International handeln, die sehr strenge Maßstäbe anlegen. Sie be-trachten selbst die Tätigkeit von Lobbyisten als Korruption, weil diese darauf abzielt, Entscheidungen, die in öffentlichen Ämtern getroffen wer-den, im Sinne bestimmter, also privater, Interessen zu beeinflussen. Die Distanz zu einer legalistischen Perspektive auf Korruption wird in jüngster Zeit sogar mit der Bezeichnung 'legale Korruption' hervorgehoben (Transparency International 2012: 10; Kaufmann/Vincente 2011). Teilweise unter Berufung auf die Expertise solcher Nicht-Regierungsorganisationen, teilweise mit Blick auf die öffentliche Meinung skandalisieren Massenmedien oft Vorfälle als Korruption, für die das Recht keine Sanktionen vorsieht.
Die Suche nach Möglichkeiten, den Missbrauch öffentlicher Ämter oder anderer anvertrauter Macht nicht-juristisch zu definieren, hat die institutionenökonomische Unterscheidung von Prinzipal und Agent ins Spiel gebracht (Groenendijk 1997). Demnach handelt es sich bei Korrup-tion um eine bestimmte Art der Vertragsverletzung in der Beziehung zwi-schen einem Prinzipal und einem Agenten, wobei der Vertragsbegriff aber nicht juristisch gemeint ist, sondern informelle Verträge einschließt (Stykow 2002: 93). Gemäß dem Prinzipal-Agenten-Modell stellt jede Handlung, mit der der Agent eigene Interessen verfolgt und gegen die Interessen des Prinzipals handelt, eine solche Vertragsverletzung dar. Das Modell selbst lässt folglich offen, welche Interessen der Prinzipal hat. Seine Anwendung setzt dann aber doch voraus, dass diese Interessen benannt werden, da deren Verletzung anderenfalls überhaupt nicht festzustellen wäre. Damit stellt sich in allen Fällen, in denen nur von informellen Verträgen die Rede sein kann, die Frage, worauf diese den Agenten denn eigentlich verpflichten. Gleichzeitig ist die Vorstellung, eine Prinzipal-Agenten-Beziehung könne jemals vollständig formal geregelt werden, abwegig; die Einsicht, dass diese Vollständigkeit unmöglich ist, ist gerade der Ausgangspunkt institutionenökonomischer Ansätze.
Nichtsdestotrotz erleichtert die Existenz eines formalen Arbeits- oder Dienstverhältnisses, bestimmte Abweichungen von eingegangenen Ver-pflichtungen als korrupt einzuordnen. Auch hier mag es gewisse Schwie-rigkeiten geben, weil bestimmte Praktiken im Interesse des Dienstherren und dennoch korrupt sein können. Das ist zum Beispiel dann der Fall, wenn Dritte Arbeitsmaterial wie Computer zur Verfügung stellen, das nicht privat, sondern in der Organisation selbst genutzt wird und dort anderenfalls vielleicht nicht in dieser Qualität zur Verfügung stünde (Stark 2011: 202ff.). Besonders große Probleme für diesen Definitionsansatz bereitet jedoch der Bereich der so genannten politischen Korruption. Hier bleibt letztlich nur der Verweis auf Formeln wie 'Wählerauftrag', 'öffentliches Interesse' oder 'Gemeinwohl', um einen angemessenen Machtgebrauch im Sinne des Prinzipals zu charakterisieren. Varianten persönlicher Bereicherung mögen in klarem Widerspruch zu solchen Formeln stehen. Wann immer aber Inhaber politischer Ämter bestimmte Interessen bevorzugt berücksichtigen oder Entscheidungen dazu nutzen, ihre politische Macht, das heißt insbesondere ihre Chancen auf Wiederwahl, zu sichern, ist unklar, ob es sich dabei um Korruption handelt. Prominentes Beispiel ist der Schwarzgeldkontenskandal der CDU in den 1990er Jahren, in dem sich Helmut Kohl mit dem Argument verteidigte, dass er sich nicht persönlich bereichert habe (Fischer 2002: 69ff.).
Thompson (1993) schlägt den Begriff der vermittelten Korruption (mediated corruption) vor, um Fälle zu erfassen, in denen politische Ak-teure nicht persönlich profitieren, sondern politisch. Er plädiert dafür, von 'tatsächlichen' Motiven der Handelnden abzusehen und die Folgen für den demokratischen Prozess zu betrachten, um zu entscheiden, ob bestimmte Spenden und der Umgang politischer Akteure mit den Spendern als korrupt oder nicht korrupt einzuordnen sind. Wie Thompson (1993: 378) betont, setzt die Verwendung des Konzeptes daher eine Vorstellung darüber voraus, wie der demokratische Prozess im Normalfall abläuft und ablaufen sollte. Letztlich mündet jeder Versuch, politische Korruption definitorisch zu bestimmen, in die Frage, was man unter Politik versteht und als Teil ihrer Normalität betrachtet (Philp 1997: 439).
Daher ist eine radikale Sichtweise wie jene von Transparency International, die bereits Lobbying als Korruption betrachtet, ebenso mög-lich wie die umgekehrte Ansicht, dass der Begriff der politischen Korrup-tion in politischen Systemen mit pluralistischer oder korporatistischer Interessenvertretung kaum noch anwendbar ist, weil er eine Trennung zwischen Staat beziehungsweise öffentlichem Interesse einerseits und Ge-sellschaft beziehungsweise privaten Interessen andererseits voraussetzt, die im politischen Prozess faktisch nicht existiere (von Alemann/Kleinfeld 1992: 276; vgl. Schefczyk 2005). - Es ist aussichtslos, nach einem konsensfähigen Kern für eine Definition politischer Korruption zu suchen, denn wann immer man ein Phänomen als politisch korrupt einordnet, legt man sich implizit auf bestimmte Vorstellungen darüber fest, was Politik ausmacht und zu ihrer Normalität gehört (Philp 1997).
Stellt man speziell für politischen Klientelismus die Frage, ob es sich dabei um Korruption handelt, zeigt sich, dass er sich gängigen Unterschei-dungen zu entziehen scheint, die in der Literatur verwendet werden, um Typen politischer Korruption zu benennen. So trennt etwa Scott (1972: 88f.) zwischen parochialer und marktförmiger Korruption. Im parochialen Fall geschieht der Missbrauch anvertrauter Macht zugunsten von Verwandtschafts- oder sonstigen persönlichen Beziehungen. Marktförmige Korruption ist demgegenüber unpersönlich; bei ihr kommt es lediglich darauf an, wie viel jemand zu zahlen bereit ist, um einen privaten Vorteil zu erlangen. Auch wenn diese Unterscheidung natürlich idealtypisch gemeint ist, trifft keine der beiden Möglichkeiten die spezifischen Merkmale des politischen Klientelismus. Dieser beruht weder auf affektiven persönlichen oder verwandtschaftlichen Beziehungen noch auf Geldzahlungen, sondern darauf, dass anvertraute Macht genutzt wird, um private Vorteile zu gewähren, in der Erwartung - beziehungsweise sogar unter der Bedingung - dass die Begünstigten eine bestimmte Partei oder Kandidatin politisch unterstützen, insbesondere ihre Wählerstimme für sie abgeben (vgl. genauer dazu Kap. 2). Jenkins (2007: 66ff.) weist gar auf die Möglichkeit eines Antikorruptions-Klientelismus hin. Damit ist gemeint, dass Aktivisten sich in dem Bemühen, konkrete Fälle von politischer Korruption zu enthüllen, auf die Hilfe von Politikern stützen, die darauf hoffen, auf diesem Wege politische Gegner in Bedrängnis zu bringen.
Politischer Klientelismus als empirisches Phänomen markiert also in zugespitzter Weise das Problem, dass es unmöglich ist, politische Korrup-tion zu beobachten, ohne sich im gleichen Zuge auf bestimmte Vorstellungen darüber festzulegen, was Politik ausmacht, was zu ihr gehört und was nicht. Bei Philp (1997) mündet diese Einsicht in ein Plädoyer für die Relevanz normativer politischer Theorie. Er gibt aber selbst den Hinweis, dass es, wenn man das Problem abstrakter formuliert, zunächst darum geht, wie man Politik als autonomen Handlungszusammenhang ernst nehmen und von anderen Handlungssphären unterscheiden kann (ebd.: 446f.). Die vorliegende Arbeit knüpft an diese Problembeschreibung an, schlägt aber als Lösung nicht den Rückgriff auf normative Ansätze der politischen Theorie vor, sondern einen soziologischen Zugriff mit Hilfe der Differen-zierungstheorie. Ein solcher Zugriff präsentiert keine Wahl zwischen un-terschiedlichen normativen Modellen des Politischen. Stattdessen nutzt er soziologische Ansätze, die davon ausgehen, dass die Unterscheidung zwi-schen Politik und anderen Handlungssphären eine Unterscheidung ist, die in der gesellschaftlichen Kommunikation ständig gemacht/hergestellt wird - oder eben nicht.
1.2 Zum Aufbau der Arbeit
Die Forschung zu politischem Klientelismus erstreckt sich über mehrere Jahrzehnte. Implizit oder explizit war sie natürlich immer auch mit der Frage beschäftigt, ob es sich dabei um ein normales politisches Phänomen oder um eine vorübergehende oder dauerhaft pathologische Abweichung von der politischen Normalität handelt. Daher beginnt die vorliegende Arbeit im nächsten Kapitel zunächst mit einer Bestandsaufnahme der Klientelismusforschung und der verschiedenen Ansätze, vor deren Hintergrund immer wieder um eine angemessene Definition von politischem Klientelismus gerungen wurde. Methodologisch stehen dabei Positionen, die mit dem Ziel einer international vergleichenden Forschung eine weite Definition bevorzugen, solchen Positionen gegenüber, die gegen eine drohende konzeptionelle Überdehnung eine enge Definition in Anschlag bringen. Theoretisch lässt sich insbesondere eine ältere Herangehensweise, die von modernisierungstheoretischen und implizit strukturfunktionalistischen Annahmen ausgeht, von einer neueren Tendenz unterscheiden, die auf Rational Choice als allgemeines Handlungsmodell setzt, um politischen Klientelismus zu verstehen und zu erklären. Die Kontrastierung dieser beiden dominierenden theoretischen Perspektiven sowie der Blick auf vorhandene alternative Ansätze münden in die Einschätzung, dass die Klientelismusforschung von einer differenzierungstheoretischen Perspektive profitieren kann.
Das dritte Kapitel widmet sich differenzierungstheoretischen Ansätzen unter dem Gesichtspunkt, ob und wie sie auf politischen Klientelismus eingehen, und zieht daraus Schlüsse für die im Weiteren verwendeten theoretischen Konzepte. Dabei zeigt sich, dass das differenzierungstheoretische Bild demokratischer Politik die Möglichkeit, dass Strukturen informeller Reziprozität das Verhältnis zwischen Politikern und Wählern prägen, entweder völlig ausblendet, als Überbleibsel früherer Differenzierungsformen marginalisiert oder in Regionen außerhalb Europas verortet, in denen das Erbe des Kolonialismus für ein abweichendes Differenzierungsmuster verantwortlich ist. Die Systemtheorie im Anschluss an Niklas Luhmann wird als prinzipiell geeignete Grundlage identifiziert, um politischen Kli-entelismus differenzierungstheoretisch zu analysieren. Allerdings bringt deren jüngere Fassung, die die Konzepte operativer Schließung und binärer Codierung in den Mittelpunkt stellt, theoretische Vorannahmen mit sich, die eine solche Analyse eher blockieren. Stattdessen wird eine ältere Fassung der Machttheorie Luhmanns als Anknüpfungspunkt für die theoretische Auseinandersetzung mit politischem Klientelismus ausgemacht.
Diese Machttheorie liegt einem von Luhmann vorgeschlagenen Modell des doppelten Machtkreislaufs in Demokratien zugrunde, das im vierten Kapitel adaptiert und erweitert wird. Das Modell betrachtet neben den formal-demokratischen Machtverhältnissen zwischen Politik im engeren Sinne, staatlicher Verwaltung und politischem Publikum informelle Machtdifferenzen, die den formalen entgegenwirken. Es lässt sich daher in modifizierter Form heranziehen, um die Machtverhältnisse in Demokratien für den Fall zu analysieren, dass Politiker dank klientelistischer Versprechen und Leistungen informelle Macht über Wähler haben. Ein wichtiger Ertrag dieser Analyse liegt in der Gegenüberstellung mit dem von Luhmann vorgeschlagenen Modell. Sie offenbart, dass Klientelismus nicht mit völlig anderen Machtverhältnissen in Demokratien einhergeht, sondern sich auf seiner Basis ähnliche informelle Machtdifferenzen ausbilden, wie Luhmann sie beschreibt. Der größte Unterschied zeigt sich im Verhältnis zwischen Politik und Verwaltung. Es wird daher mit besonderer Sorgfalt diskutiert, um zu klären, was dieser Unterschied differenzierungstheoretisch bedeutet.
Der differenzierungstheoretische Hintergrund motiviert die Auswahl der zwei Länder, die in den folgenden Kapiteln genauer daraufhin unter-sucht werden, welche Rolle Klientelismus in ihren politischen Systemen spielt. Um den pauschalen Schluss von der Beobachtung klientelistischer Strukturen auf eine unvollständige oder defizitäre funktionale Differenzierung zu vermeiden, stehen mit Griechenland und Irland zwei europäische Länder im Fokus - Länder also, für die ein solches Argument schwierig wäre. Schließlich würde es die Frage aufwerfen, wo dann überhaupt noch von funktionaler Differenzierung gesprochen werden dürfte. Damit ist nicht ausgeschlossen, dass die Untersuchung der beiden Länder Unterschiede hinsichtlich des Grades der Ausdifferenzierung von Politik aufzeigen wird; mögliche Unterschiede werden durch die Anlage der Untersuchung aber als empirische Frage behandelt, die sich vor dem Hintergrund eines prinzipiell erkennbaren funktionalen Differenzierungsmusters stellt.
Im Falle Griechenland begrenzt die Sprachbarriere die Möglichkeiten der Analyse. Sie beschränkt sich daher im fünften Kapitel auf eine Aus-wertung der deutsch- und englischsprachigen Literatur, die Auskünfte zu den im Modell des Machtkreislaufs betrachteten Relationen zwischen Politik, Verwaltung und Publikum gibt. Daraus ergibt sich, dass mindestens bis Mitte der 1990er Jahre die klientelistische Version des Machtkreislaufmodells die informellen Machtverhältnisse besser widerspiegelt als das ursprüngliche Modell. Auch für die Zeit danach gibt es gute Gründe davon auszugehen, dass politischer Klientelismus weiterhin eine wichtige Rolle spielte. Allerdings zeigt sich, dass mit dem Einfluss der Europäischen Union zunehmend ein Faktor ins Spiel kommt, der im Modell des Machtkreislaufs nicht berücksichtigt ist. Einerseits scheint er den politischen Klientelismus zusätzlich zu stabilisieren, andererseits wirken die Anforderungen der europäischen Integration, speziell der Einführung des Euro, wie ein politisches Reformprogramm, das die Konkurrenz der Parteien ansonsten kaum hervorgebracht hätte. In diesem Punkt, wie auch in der Frage nach den Folgen der griechischen Finanzkrise für die klientelistische Basis informeller Macht, beschränkt sich das Kapitel auf einige vorsichtige Schlussfolgerungen.
Das sechste Kapitel unternimmt für die Republik Irland ebenfalls zu-nächst eine Auswertung der existierenden Literatur. Dabei zeigt sich, dass trotz verschiedener Studien, die Aspekte irischer Politik als Klientelismus analysieren, insgesamt die Skepsis überwiegt, ob diese Perspektive ange-messen ist. Sie wird in erster Linie ins Spiel gebracht, um die Vermittler-rolle von Politikern beim Umgang von Bürgern mit der Verwaltung in den Blick zu rücken, die in Irland stark ausgeprägt ist. Da Hilfe suchende Wähler sich aufgrund des Wahlsystems aber gleichzeitig an mehrere Abgeordnete verschiedener Parteien wenden können, lässt sich nicht davon sprechen, dass partikularistische Vorteile konditioniert vergeben würden.
Neben der Bedeutung, die Vermittlerdienste für einzelne Wähler im politischen Wettbewerb haben, ist jedoch der Umstand bemerkenswert, dass in der irischen politischen Öffentlichkeit Klientelismus als Problem der Politik im Land thematisiert wird. Begreift man Differenzierung auch als Ergebnis der Selbstbeobachtung von sozialen Systemen, wie die Luh-mannsche Systemtheorie vorschlägt, liegt es nahe, Klientelismus als Se-mantik zu verstehen, die im Zuge der Selbstbeschreibung des irischen politischen Systems verwendet wird. Das siebente und das achte Kapitel nehmen daher Redebeiträge im Parlament sowie Beiträge in den beiden wichtigsten Zeitungen des Landes in den Blick, die Aspekte oder Ereig-nisse der irischen Politik als Klientelismus bezeichnen. Untersucht wird, welches Verständnis von Klientelismus diesen Äußerungen zugrunde liegt und welche Erwartungen über politische Erwartungen mit Hilfe dieses Begriffs reflektiert werden. Dabei zeigt sich, wie eine Erwartungsstruktur, die davon ausgeht,
Ein neuntes Kapitel fasst die zentralen theoretischen Überlegungen und empirischen Ergebnisse der Arbeit abschließend noch einmal zusam-men und ordnet sie mit Blick auf die Fragestellung und allgemeine Schlussfolgerungen für die Differenzierungstheorie ein.
2. Klientelismusforschung und soziologische Theorie
(Politischer) Klientelismus wurde in den 1960er und 1970er Jahren Gegenstand spezieller sozialwissenschaftlicher Untersuchungen. Diese fanden in

Die sich wandelnden Forschungsinteressen haben die Art und Weise,
2.1 Klientelismus - Definitionen und deren Folgeprobleme

'The patron-client relation is def
Anderswo wird stärker hervorgehoben, dass die die Beziehung begründende Reziprozität nicht die einer rationalen Kalkulation ist:





Festhalten lässt sich, dass Definiti
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