Freiheit von Schulden - Freiheit zum Gestalten? Die Politische Ökonomie von Haushaltsüberschüssen
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Lukas Haffert
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Freiheit von Schulden - Freiheit zum Gestalten? Die Politische Ökonomie von Haushaltsüberschüssen
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Campus Verlag
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9783593432762
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Schriften aus dem MPI für Gesellschaftsforschung
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1
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CHF 42.60
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Politik und Wirtschaft
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German
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336
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Wasserzeichen/DRM
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PC/MAC/eReader/Tablet
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PDF
In vielen Ländern ist die Staatsverschuldung in den letzten 30 Jahren erheblich gestiegen. Es gibt jedoch Ausnahmen: Demokratien wie Schweden, Dänemark oder Kanada gelang es, dauerhaft Haushaltsüberschüsse zu erwirtschaften und ihre Staatsverschuldung abzubauen. Wie haben diese Länder die Überschüsse verwendet? Lukas Haffert kommt zu dem Ergebnis, dass die Gestaltungsfähigkeit ihrer Politik, anders als häufig versprochen, äußerst begrenzt geblieben ist: Sie investierten nicht mehr in Infrastruktur, Bildung und Familien als ihre Nachbarstaaten mit Haushaltsdefiziten. Lukas Haffert wurde ausgezeichnet mit: Otto-Hahn-Medaille der Max-Planck-Gesellschaft 2015 und Deutscher Studienpreis der Körber-Stiftung 2015.
Lukas Haffert ist Oberassistent am Institut für Politikwissenschaft der Universität Zürich.
Vorwort
In den Wochen, da dieses Buch erscheint, debattiert der Deutsche Bundestag über den Bundeshaushalt 2016, der zum dritten Mal in Folge ausgeglichen sein soll. Fast haben wir uns schon an diese 'schwarze Null' gewöhnt. In der jüngeren deutschen Finanzgeschichte ist sie jedoch weiterhin etwas Besonderes: Vor 2014 hatte der Bund zuletzt 1969 einen ausgeglichenen Haushalt erzielt, noch 2010 lag das Haushaltsdefizit bei 4,3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts.
In den mehr als vier Jahren meiner Arbeit an diesem Buch kam es deshalb zu einem häufig wiederkehrenden Dialog. Wann immer ich anderen von meinem Forschungsthema berichtete, reagierten sie nämlich mit einiger Skepsis: 'Haushaltsüberschüsse - gibt es das überhaupt?'
Ich erläuterte dann regelmäßig, dass solche Überschüsse tatsächlich verbreiteter seien, als man intuitiv annimmt. Kanada, Schweden oder Neuseeland hätten sogar für mehr als ein Jahrzehnt ununterbrochen Überschüsse erzielt. Damit war der Dialog jedoch nicht beendet. Denn meine Ausführungen lösten sogleich eine zweite Frage aus: 'Das ist ja toll - wie machen die Länder denn das?'
Diese Frage, erklärte ich dann, sei voreilig gestellt. Denn sie gehe davon aus, dass Überschüsse eine unzweifelhaft positive Sache sind, die alle Länder anstreben sollten. Das ist aber nicht zwingend der Fall. Denn nur weil Überschüsse mit einer Reihe positiver Versprechen verbunden sind, müssen sich diese nicht auch tatsächlich erfüllen. Bevor wir Überschüsse zu einem politischen Ziel ausrufen, so argumentierte ich, müssten wir erst einmal klären, ob sie tatsächlich die positiven Folgen haben, die wir ihnen zuschreiben. Genau dieser Frage ist dieses Buch gewidmet.
Es ist eine gekürzte und überarbeitete Fassung meiner am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung (MPIfG) in Köln entstandenen Dissertation. In den vier Jahren, in denen ich dort den Abbau der finanziellen Verschuldung untersuchte, habe ich selbst zahlreiche intellektuelle Schulden angehäuft. Mein größter Gläubiger war dabei Wolfgang Streeck, der mit nie nachlassendem Elan in meine Verwandlung von einem politisch interessierten Ökonomen zu einem tatsächlichen politischen Ökonomen investiert hat. Ich hoffe, dass diese Anlage noch lange Zinsen trägt.
Besonders danken möchte ich zudem meinem Zweitgutachter Martin Höpner, der das Buch bis in die letzte Überarbeitung hinein mit vielen klugen Hinweisen begleitet hat. Wichtige Anstöße habe ich darüber hinaus Marius Busemeyer, Henrik Enderlein, Sigrid Quack und Armin Schäfer zu verdanken, die mir in unterschiedlichen Phasen des Entstehungsprozesses mit Ratschlägen und Kommentaren zur Seite standen. Die finalen Überarbeitungen des Textes erfolgten in Florenz, wo Pepper Culpepper ein immer hilfreicher Mentor war.
Wie jeder politische Ökonom weiß, ist der Ertrag einer Investition stets vom sozialen Umfeld abhängig, in das sie eingebettet wird. In dieser Hinsicht hat meine Arbeit maßgeblich vom regelmäßigen Austausch mit anderen (Post-) Doktoranden am Kölner Institut profitiert. Timur Ergen, Barbara Fulda, Sebastian Kohl, Daniel Mertens und Raphael Reinke hatten mit all den Schwierigkeiten des Dissertationsprozesses zu ringen, mit denen ich auch konfrontiert war - es war großartig, sie gemeinsam mit ihnen überwinden zu können. Lea Elsässer und Philip Mehrtens haben das Manuskript zum Schluss vollständig durchgearbeitet und mit vielen scharfsinnigen Korrekturen zu seiner Verbesserung beigetragen. Großen Dank schulde ich zudem den nichtwissenschaftlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Instituts - die institutionelle Unterstützung, die man am MPIfG erfährt, ist wohl einzigartig. Die vielfältigen Quellen der Inspiration dort repräsentierte schließlich niemand besser als Carolin Lange, deren unbändige Lust auf pointierte Debatten mir eine ständige Herausforderung und Freude war.
Was ich am MPIfG aber vor allem gelernt habe, ist eine bestimmte Haltung: dass nämlich sozialwissenschaftliche Forschung gerade deshalb attraktiv ist, weil sie keine endgültigen Antworten kennt. Dass es oft mehr wert ist, ein Problem präzise zu benennen, als eine scheinbare Lösung anzubieten. Und dass keine Theorie sich jemals endgültig durchsetzen und keine Theorie je vollständig zu den Akten gelegt werden kann. Diese Ambivalenz motiviert, immer noch weiter zu lesen, zu denken und zu zweifeln.
Zürich, im Oktober 2015
Lukas Haffert
Kapitel 1
Einleitung: Freiheit von Schulden - Freiheit zum Gestalten?
But now, Mr. Speaker, having done what we had to do, we can see that the worst is behind us, that brighter days lie ahead. The era of cuts is ending. The finances of the nation are finally being brought under control. We are at the point where we are now able to forge a new destiny for ourselves. (Martin 1997: 28)
Mit dieser pathetischen Formulierung präsentierte Finanzminister Paul Martin dem kanadischen Unterhaus am 18. Februar 1997 den ersten ausgeglichenen Staatshaushalt seit 1969. Damit, so seine Botschaft, ende eine Epoche, in der politische Entscheidungen immer öfter alternativlos, weil von unverrückbaren Sachzwängen getrieben gewesen seien. Die erfolgreiche Haushaltssanierung befreie die kanadische Politik aus den Fesseln dieser Alternativlosigkeit. Sie habe die Kraft zurückerlangt, Kanadas Zukunft aktiv zu gestalten.
Angesichts der noch immer spürbaren Folgen der Weltfinanzkrise von 2008 ist die Rückgewinnung politischer Entscheidungsspielräume heute, achtzehn Jahre nach dieser Rede, weltweit eine dringliche Aufgabe. Denn mit dem Diktat des Sachzwangs ist ein fundamentales Problem für die Demokratie verbunden. Demokratie setzt die Möglichkeit einer Wahl zwischen Alternativen konstitutiv voraus. Wo aber jedes Wahlergebnis zur selben Politik führt, ist dieses demokratische Grundprinzip infrage gestellt (Schäfer/Streeck 2013a). Mit gutem Grund kürte die Gesellschaft für deutsche Sprache das Wort 'alternativlos' daher zum Unwort des Jahres 2010.
Diese Arbeit untersucht eine häufig vorgeschlagene Strategie zur 'Rückgewinnung staatlicher Handlungsfähigkeit' (Wagschal/Wenzelburger 2008a): die Konsolidierung der öffentlichen Haushalte und den Abbau von Staatsverschuldung. Am Beispiel Kanadas und anderer Länder mit dauerhaften Haushaltsüberschüssen wird geprüft, ob diese ihr 'Schicksal' im Sinne Martins tatsächlich zurück in die Hände der Politik legen konnten. Die Untersuchung kommt zu dem Ergebnis, dass diese Strategie wenig erfolgversprechend ist. Wo fiskalische Handlungsspielräume ausgebaut werden konnten, gelang dies durch eine Be-schränkung politischer Handlungsspielräume, sodass die Handlungsfähigkeit der Politik zwar neu justiert, aber eben nicht vergrößert wurde.1
1.1 Staatliche Handlungsfähigkeit und Verschuldung
Dass die staatlichen Entscheidungsspielräume in den letzten Jahrzehnten erheblich geschrumpft sind, ist weitgehend unumstritten. Warum das aber so ist, dafür gibt es verschiedene Erklärungen. Bereits in den 1970er-Jahren sah eine breite sozialwissenschaftliche Literatur die zunehmende 'Unregierbarkeit' demokratischer Gesellschaften voraus. Von konservativer Seite wurde dafür die
'Anspruchsinflation' der Bürger, von linker Seite die permanente Notwendigkeit, ökonomische Konflikte politisch zu pazifizieren, verantwortlich gemacht (Schäfer 2008). Seit den 1980er-Jahren galt dann vor allem die Globalisierung als Ursache schrumpfender Handlungsspielräume (Scharpf 1991; Cerny 1996; Berger 2000). Die zunehmende ökonomische Integration zwinge die Staaten zu einem immer schärferen Wettbewerb um mobile Produktionsfaktoren, der zu einem Unterbietungswettkampf, etwa bei der Besteuerung, führe, in dem nationale Eigenheiten auf der Strecke blieben. Andere Autoren relativierten die Rolle der Globalisierung und betonten die vorwiegend in den Grenzen des Nationalstaats stattfindende Transformation von der Industrie- zur Dienstleistungsökonomie (Iversen/Wren 1998; Iversen 2005). Letztere leide vor allem an den geringen Produktivitätszuwächsen im Dienstleistungssektor. Das zwinge den Staat, Arbeitsplätze in diesen Sektoren immer stärker zu subventionieren und stelle ihn somit vor ein Trilemma zwischen Vollbeschäftigung, wirtschaftlicher Gleichheit und gesunden Staatsfinanzen. Ein dritter Literaturstrang verwies vor allem auf die Ausreifung des Wohlfahrtsstaats, die den Staat in Verbindung mit dem demografischen Wandel immer stärker belaste (Pierson 1998, 2001a). Wachsende Teile des Staatshaushalts müssten dafür aufgewendet werden, in der Vergangenheit geleistete Zahlungsversprechen zu erfüllen. Zudem müssten immer weniger Beitragszahler für immer mehr Beitragsempfänger aufkommen. Der Staat sei deshalb zunehmend darauf beschränkt, für Entscheidungen der Vergangenheit zu bezahlen anstatt neue, auf die Zukunft gerichtete Entscheidungen zu treffen.
In den Jahren seit dem Ausbruch der Weltfinanzkrise und befeuert durch die Eurokrise ist nun vor allem die Staatsverschuldung als Ursache staatlichen Autonomieverlusts in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit gerückt. Die Diagnose eines engen Zusammenhangs zwischen staatlicher Handlungsfähigkeit und Fiskalpolitik ist allerdings deutlich älter als die aktuelle Krise. Schon Rudolf Goldscheid betrachtete diese Handlungsfähigkeit als grundsätzlich begrenzt, weil sich der Staat als 'Steuerstaat' von der Profitabilität der Privatwirtschaft abhängig gemacht habe (Goldscheid [1917]1976b). Und die Autoren, die unter der Parole 'bringing the state back in' das autonome Handlungspotenzial des Staates wieder verstärkt in den Mittelpunkt der wissenschaftlichen Aufmerksamkeit rückten, legten von Anfang an ein Augenmerk auf seine Finanzbeziehungen. So argumentierte Theda Skocpol 1985:
A state's means of raising and deploying financial resources tell us more than could any other single factor about its existing (and immediately potential) capacities to create or strengthen state organizations, to employ personnel, to coopt political support, to subsidize economic enterprises, and to fund social programs. (Skocpol 1985: 17)
Im Zeitalter 'permanenter Austerität' (Pierson 1998, 2001b) hat diese abstrakte Diskussion staatlicher Handlungsfähigkeit an konkreter Brisanz gewonnen. Den Ausgangspunkt bildet eine simple Korrelation: Die Beschränkung politischer Spielräume verlief in den letzten drei Jahrzehnten parallel zu einem in Friedenszeiten nie gekannten Anstieg der Staatsverschuldung. Hatte die Verschuldungsquote in den meisten westlichen Industrieländern in den 1970er-Jahren noch bei unter 40 Prozent gelegen, stieg ihr Median bis Mitte der 1990er-Jahre auf über 70 Prozent, ehe sie durch erhebliche Konsolidierungsanstrengungen leicht zurückgeführt werden konnte. Im Gefolge der Weltfinanzkrise ab 2008 stieg die Medianverschuldung dann erneut sprunghaft an (Abbildung 1-1) - bis zum Ende des Untersuchungszeitraums 2010 auf über 80 Prozent, bis 2014 sogar auf fast 100 Prozent.
Wachsende Verschuldung beschränkt staatliche Handlungsfähigkeit in verschiedener Hinsicht. So sind ihr immer wieder negative makroökonomische Folgewirkungen zugeschrieben worden. Dabei wurde in den 1970er- und 1980er-Jahren vor allem der Zusammenhang von Staatsverschuldung und Inflation betont (Buchanan/Wagner 1977). In jüngerer Zeit sind dagegen mögliche Negativeffekte auf das Wirtschaftswachstum in das Blickfeld gerückt (vgl. zur an Reinhart/Rogoff 2010b entbrannten Kontroverse Kapitel 2). Die Verschuldung beschränkt den Spielraum der Fiskalpolitik aber auch ganz direkt: Über die zu- nehmende Zinslast bindet sie finanzielle Mittel, die sonst an anderer Stelle eingesetzt werden könnten. So lag die Zinssteuerquote, also der Anteil der Steuereinnahmen, der für Zinszahlungen aufgewendet werden muss, im deutschen Bundeshaushalt des Jahres 2005 bei immerhin 16,4 Prozent (Konrad 2007: 118) und erreichte in Kanada im Krisenjahr 1995 sogar fast 36 Prozent (Lewis 2003: 151). Darüber hinaus zwingt die Verschuldung den Staat, sich wegen der jährlich anstehenden Überwälzung eines Teils der Schulden das Wohlwollen der Finanzmärkte zu bewahren, um neue Anleihen zu möglichst günstigen Konditionen platzieren zu können. Wo sich ein Staat zudem fiskalischen Normen unterworfen hat, etwa dem Stabilitätspakt der Eurozone, hat deren Einhaltung im Zweifel Vorrang vor anderen Zielen, wenn die Verschuldungsquote sich den definierten Grenzwerten nähert. Auch das begrenzt die Handlungsfähigkeit.
Hinzu kommt, dass wachsende Staatsverschuldung in aller Regel nur ein Symptom eines tiefer gehenden Verlustes fiskalischer Handlungsspielräume ist. Schulden sind insofern bereits selbst ein Versuch, Handlungsfähigkeit zu leihen. Sie sind eine Reaktion darauf, dass immer größere Teile der Staatseinnahmen dazu verwendet werden müssen, früher geleistete Zahlungsversprechen zu erfüllen. Instruktiv ist dabei die in den USA übliche Unterscheidung zwischen mandatory spending und discretionary spending. Während Ersteres bereits durch frühere Entscheidungen determiniert ist, muss (und kann!) Letzteres vom Kongress jedes Jahr neu bewilligt werden. Der Anteil dieser jährlich disponiblen Ausgaben befindet sich jedoch in nahezu allen entwickelten Demokratien seit Jahren auf dem Rückzug. Selbst wo das Budgetvolumen gestiegen ist, hat die politische Fähigkeit, Ressourcen für neue Ziele zu mobilisieren, also abgenommen (Schick 2009). In Deutschland ist der Zuschuss zur Rentenversicherung längst der größ- te Posten im Bundeshaushalt und in den USA überstieg das mandatory spending im Krisenjahr 2009 erstmals die Staatseinnahmen. Alle neuen Politikinitiativen mussten durch Kredite finanziert werden (Steuerle 2014).
Unabhängig davon, welchem der verschiedenen theoretischen Erklärungsansätze man die größte Erklärungskraft zubilligt, stellt dieser Verlust staatlicher Handlungskapazität ein fundamentales Problem für demokratisch verfasste Gemeinwesen dar. 'Fiskalische Demokratie' ist nämlich nur gewährleistet, wenn gewählte Parlamente über diskretionäre Ausgaben verfügen können, also auch tatsächlich etwas zu entscheiden haben (Steuerle 2014; Streeck/Mertens 2010a). Die Wiedergewinnung staatlicher Handlungsfähigkeit ist daher ein enorm wichtiges Ziel. Um es zu erreichen, werden vor allem zwei Ansätze vorgeschlagen. Der erste Ansatz besteht darin, staatliche Kompetenzen auf supranationale Organisationen zu übertragen. Seine fortgeschrittenste Verwirklichung ist die Europäische Union (siehe etwa Habermas 2013). Die hinter diesem Ansatz stehende Logik ist so einfach wie bestechend: Wenn der Nationalstaat nur noch Alternativlosigkeiten administrieren kann, muss er eben durch eine größere und entsprechend handlungsfähigere Einheit ersetzt werden. Der wichtigste Alternativansatz besteht in dem Versuch, staatliche Entscheidungsspielräume auf nationaler Ebene zurückzugewinnen. Dieser Ansatz verspricht vor allem dann Erfolg, wenn das Diktat des Sachzwangs wesentlich auf fiskalischen Stress und den Verlust fiskalpolitischer Handlungsoptionen zurückzuführen ist. Seine Logik basiert in diesem Fall auf einem einfachen Umkehrschluss: Wenn steigen- de Verschuldung zu sinkender Handlungsfähigkeit führt, dann muss sinkende Verschuldung zu einem Wiederanstieg der Handlungsfähigkeit führen. Gelingt es also, fiskalische Manövriermasse zurückzugewinnen, kann auch wieder zwischen politischen Alternativen entschieden werden. Diese Logik zu hinterfragen und zu zeigen, dass ein solcher Umkehrschluss voreilig ist, bildet den Kern der vorliegenden Arbeit.
1.2 Progressive Haushaltskonsolidierungen
Am 28. November 2014 beschloss der Deutsche Bundestag den Bundeshaushalt für 2015, der erstmals seit 1969 ohne neue Schulden auskommen soll. Wenn mit dieser 'schwarzen Null' große Hoffnungen verbunden werden, dann auch deshalb, weil sie das Versprechen enthält, die Zwänge der Alternativlosigkeit zumindest abzumildern. Bevor die Überschüsse überhaupt Realität geworden waren, erhoben verschiedenste Akteure Forderungen, wie sie zu verteilen seien. Alle politischen Projekte, die seit Jahren der angespannten Haushaltslage zum Opfer gefallen waren, kamen nun wieder auf die Agenda: vom Abbau der kalten Progression in der Einkommensteuer über eine Erhöhung von Sozialleistungen bis zu höheren Investitionen in die öffentliche Infrastruktur. Zugleich, so der von allen Seiten bekundete politische Wille, sollte aber mit dem Abbau der Altverschuldung begonnen werden.
Diese Hoffnung, ausgeglichene Haushalte und sinkende Schulden könnten zu einer Wiedergewinnung staatlicher Handlungsfähigkeit führen, ist keine Besonderheit der deutschen Debatte. Vielmehr knüpft sie an eine Argumentation an, die bereits in den 1990er-Jahren vor allem unter Vertretern eines 'dritten Weges' verbreitet war (Giddens 1998; Romano 2006). Ihr prominentester Exponent war wohl Bill Clinton, dessen Regierung in den Jahren 1998 bis 2000 den US-Bundeshaushalt ausglich und prognostizierte, bis zum Jahr 2012 könnten die USA vollständig schuldenfrei sein (Congressional Budget Office 2001). Diese Überschüsse repräsentieren eine in den 1990er-Jahren weltweit voran- getriebene Politik der Haushaltskonsolidierung durch progressive Regierungen. Die liberale Regierung in Kanada, die sozialdemokratischen Regierungen in Schweden und Dänemark, und die britische New-Labour-Regierung unter Tony Blair und Gordon Brown sind andere Beispiele für eine solche progressive Konsolidierungspolitik.
Der Ansatz, den diese Regierungen verfolgten, wird im Folgenden als 'progressive Konsolidierung' bezeichnet.3 Solche Konsolidierungen müssen nicht zwangsläufig von progressiven Regierungen betrieben werden. Was sie ausmacht, ist vielmehr ihre progressive Zieldefinition. Diese könnte unter der paradoxen Überschrift 'Handlungsfähigkeit durch Austerität' zusammengefasst werden. In dieser Perspektive sind ausgeglichene Haushalte kein Zweck an sich, sondern ein Mittel zum Zweck, nämlich zur Wiedergewinnung staatlicher Gestaltungsfähigkeit. Konsolidierungen sind also nur ein erster Schritt, der die Umsetzung progressiver Politikziele überhaupt erst ermöglicht. Sie erlauben es, die nötigen Ressourcen für die eigentlichen Ziele, nämlich 'harte' und 'weiche' Investitionen in Infrastruktur, Bildung und Familien aufzubringen.
Dieser enge Zusammenhang zwischen der Lage der öffentlichen Haushalte und der staatlichen Gestaltungsfähigkeit wird von den politischen Vertretern progressiver Konsolidierungen immer wieder offensiv betont. Beinahe sprich- wörtlichen Rang hat in der Staatsverschuldungsliteratur das Zitat 'Wer Schulden hat, ist nicht frei' des schwedischen Finanz- und späteren Premierministers Gör- an Persson erlangt, der sogar ein Buch mit diesem Titel veröffentlichte (Persson 1997). Während die Umkehrung, Schuldenabbau führe zu Handlungsfreiheit, bei Persson noch implizit erfolgt, machte sie sein kanadischer Amtskollege Paul Martin in der eingangs zitierten Rede explizit: 'We are at the point where we are now able to forge a new destiny for ourselves' (Martin 1997). Ganz ähnlich wurde auch im Deutschen Bundestag argumentiert, als dieser am 29. Mai 2009 eine Verfassungsänderung debattierte, mit der die sogenannte Schuldenbremse in das Grundgesetz aufgenommen wurde. So führte der damalige Finanzminister Peer Steinbrück aus:
Wenn Sie sich anschauen, wie sich die Schuldenstandquote in Deutschland, das heißt das Verhältnis der Schulden zu unserer Wirtschaftsleistung - und damit automatisch die Zins- lastquote; will sagen: der Anteil der Zinsausgaben am Bundeshaushalt -, entwickelt hat, dann werden Sie feststellen, dass der Bundeshaushalt immer weiter verkarstet und versteinert und Ihre politischen Handlungsspielräume, vor allen Dingen die der nachfolgenden Generationen von Bundestagsabgeordneten, immer geringer werden. Das ist das Problem. [...]
Wer zukünftig einen handlungsfähigen Staat will, wer die Gestaltungsfähigkeit der Politik und nachfolgender Parlamentariergenerationen erhöhen will, der muss dafür sorgen, dass Schuldenstand und Zinslast reduziert werden. Ein handlungsfähiger Staat braucht langfristig tragfähige öffentliche Finanzen. (Steinbrück 2009: 24866)
Dieses Argument stieß auf parteiübergreifende Zustimmung und wurde in fast wortgleicher Formulierung auch von Abgeordneten anderer Parteien vorgebracht. Auch in der wissenschaftlichen Literatur wird es fast wörtlich wiederholt. So betiteln Uwe Wagschal und Georg Wenzelburger einen Artikel bereits mit
'Die Rückgewinnung staatlicher Handlungsfähigkeit' und führen aus:
Wenn Regierungen sich daher über eine Ausgabenpolitik differenzieren und profilieren möchten, müssen sie diesen Handlungsspielraum - bei zu hoher Staatsverschuldung - zurückgewinnen, d. h. sie müssen ihre Haushalte konsolidieren. (Wagschal/Wenzelburger 2008a: 142)
Und der amerikanische Politikwissenschaftler Donald Taylor schreibt mit ähnlicher Stoßrichtung, aber deutlich mehr Emphase:
Progressives have more at stake in developing a long-range balanced budget than do Con- servatives precisely because we believe that government has a positive role to play in modern life. If we do not develop a path to a sustainable federal budget, there will be no room left for government to invest in new opportunities that could make people and our country better off. (Taylor 2012: ix)
Diese Interpretation von Konsolidierungen kommt in empirischen Untersuchungen auch ganz direkt zur Anwendung. Analysen, die den Einfluss von fiskalischem Stress auf die Staatstätigkeit untersuchen, operationalisieren Budgetüberschüsse in aller Regel als das Spiegelbild von Budgetdefiziten und unterstellen eine Symmetrie zwischen den beiden Phänomenen. Dann wird aus dem Befund, dass Defizite die Investitionen reduzieren, durch Umkehrschluss gefolgert, Überschüsse würden diese erhöhen - genau wie von progressiven Konsolidierern unterstellt. Ein Beispiel bietet die Studie von Boix (1997), der den Einfluss politischer Parteien auf die öffentlichen Investitionen untersucht und dabei, indem er Defizite und Überschüsse als symmetrisch betrachtet, zu folgendem Schluss gelangt:
[R]egardless of the ideological sign of the government, a budget surplus (deficit) contributes to boost (shrink) the level of public investment - each point of the budget stance changes public investment by 0.009 points of GDP. The degree of budget imbalance has, however, a particularly powerful effect on the policy decisions of a socialist cabinet. [... A] socialist cabi- net increases public investment by 0.031 percentage points of GDP more than a conservative government for each percentage point of budget surplus. Conversely, a budget deficit depresses the public investment rate under a socialist government rather rapidly.
(Boix 1997: 830f., Hervorhebung nicht im Original)
Was im Defizit schrumpft, so seine Botschaft, wird im Überschuss wieder wach- sen. Aus dieser Verknüpfung von Konsolidierungen mit dem Ziel der Handlungsfähigkeit folgt aber, dass sich der Erfolg einer progressiven Haushaltskonsolidierung nicht schon während der Konsolidierung selbst, sondern erst in ihrer Folgezeit beurteilen lässt. Ob eine Konsolidierung ihren Zweck erfüllt, zeigt sich nicht bereits an einer Reduktion der Schuldenquote. Erst wenn dieser Rückgang sich tatsächlich mit einem Wiedergewinn staatlicher Handlungsfähigkeit verbindet, ist eine progressive Konsolidierung gelungen. Ihr Erfolg kann also erst im Rückblick beurteilt werden.
1.3 Der empirische Fall: Länder mit dauerhaften Haushaltsüberschüssen
Diese Arbeit unternimmt einen solchen Rückblick mit dem Ziel, die Prognosen der progressiven Konsolidierungsthese theoretisch zu hinterfragen und empirisch zu überprüfen. Dazu analysiert sie Länder, denen es tatsächlich gelungen ist, ihre Haushalte nachhaltig zu konsolidieren und sich somit, zumindest potenziell, vom Diktat fiskalischer Sachzwänge zu be
1.4 Die Fragestellung: Wie werden Überschüsse verwendet?
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