Erstes Kapitel.
Zwischen Morgen und Mittag saß die kleine Maria unter denselben Sykomoren, welche gestern das junge, kurze Liebesglück des Bachstelzchens beschattet, auf einem niedrigen Rohrstuhl, und neben ihr ihre Erzieherin Eudoxia, unter deren Aufsicht sie aus einem griechischen Katechismus die zehn Gebote abschreiben sollte.
Die Lehrerin war von der wachsenden Hitze und dem Blütenduft rings um sie her entschlummert, und ihre Schülerin führte nicht mehr die Feder.
Mit verweinten Augen sah sie auf die Muscheln, welche über den Weg gestreut waren, und benützte ihr langes Lineal, anfangs um unter ihnen umherzuwühlen, dann aber um die Worte »Paula« und »Paula, Marias Geliebte« mit großen Anfangsbuchstaben in sie einzufurchen. Nur ein Schmetterling, welcher den Bewegungen des Holzes folgte, weckte dann und wann einen heiteren Zug in ihrem lieben Gesichtchen, aus dem es dem trüben Geiste »Kummer« doch nicht geglückt war, den Frohsinn ganz zu verdrängen. Trotzdem that das Herzchen ihr weh. Still wie in ihrer Umgebung war es im ganzen Garten und auch im Hause; denn vor Sonnenaufgang hatte sich der Zustand des Großvaters ernstlich verschlimmert und jedes Geräusch mußte von ihm fern gehalten werden.
Maria dachte eben an den armen Kranken, wie schwer er zu leiden habe, und wie weh auch ihm die Trennung von Paula thun werde, als ihr durch die Allee Katharina entgegenkam.
Die Sechzehnjährige machte heute ihrem Namen Bachstelzchen wenig Ehre; denn ihre niedlichen Füßchen schlürften durch den Muschelkies, ihr Köpfchen war müde gesenkt, und wenn eins der tausend Insekten, die sich in der sonnigen Morgenluft wiegten, ihr nahe kam, schlug sie nach ihm gereizt mit dem Fächer.
Als sie Maria erreicht hatte, rief sie ihr das gewöhnliche »Freue Dich« zu; doch diese beantwortete es nur mit einem widerwilligen Kopfnicken, wandte ihr dann halb den Rücken und fuhr fort, ihre Inschrift zu malen.
Aber Katharina achtete noch nicht dieses kühlen Willkommens, sondern hob teilnehmend an:
»Es soll ja Deinem armen Großvater nicht wohl gehen?«
Maria zuckte die Achseln.
»Sie sagen sogar, er sei recht bedenklich erkrankt; ich habe Philippus selbst gesprochen.«
»So?« machte Maria, ohne die ältere Freundin anzusehen, und setzte ihre Thätigkeit fort.
»Orion ist bei ihm,« ergänzte Katharina. »Und Paula, sie will die Statthalterei also wirklich verlassen?«
Das Kind nickte stumm mit dem Kopf, und seine verweinten Augen füllten sich mit neuen Thränen.
Da bemerkte das Bachstelzchen, daß die Kleine traurig aussah und ihr geflissentlich keine Antwort erteilte. Zu anderen Zeiten hätte sie das wenig gekümmert, aber heute verletzte sie ihr Schweigen, ja, es wurde ihr dabei bange, und so stellte sie sich Maria, die das Lineal unermüdlich zu handhaben fortfuhr, gegenüber und sagte laut und empfindlich:
»Es scheint ja, als sei ich seit gestern in Ungnade gefallen. Wie jedes will, aber solche Ungezogenheit, sag' ich Dir, laß ich mir nicht gefallen.«
Die letzten Sätze waren von der Erzieherin, welche die hohe Stimme Katharinas erweckt hatte, verstanden worden, und indem sie sich eine würdige Haltung gab, fragte sie streng:
»Wie hat man sich gegen liebe Gäste zu verhalten, Maria?«
»Ich sehe hier keine,« versetzte das Kind und zog die Lippen trotzig zusammen.
»Ich aber, ich!« rief die Erzieherin. »Wie eine Barbarentochter benimmst Du Dich, nicht wie ein hellenisch erzogenes Mädchen. Katharina ist kein Kind mehr, wenn sie sich auch noch manchmal zum Spielen mit Dir herabläßt. Gleich gehst Du hin und bittest sie für dies garstige Wort um Verzeihung!«
»Ich?« fragte das Kind, und es lag darin die entschiedenste Ablehnung dieses Befehles. Dann sprang sie auf und rief mit funkelnden Augen: »Wir sind keine Griechinnen, weder sie noch ich, und wenn ihr es noch einmal hören wollt: Sie ist, ist, ist nicht mehr mein lieber Gast, meine Freundin; nein, wir haben nichts, gar nichts mehr mit einander zu schaffen!«
»Bist Du toll geworden?« rief nun Eudoxia, und ihr langes Gesicht gewann ein bedrohliches Ansehen, während sie sich trotz der wachsenden Hitze des Tages aus ihrem tiefen Ruhesessel erhob und sich anschickte, auf ihren Zögling zuzutreten und ihn mit Gewalt zu der Abbitte zu nötigen. Doch Maria war behender als die alternde Griechin und floh hurtig wie eine Gazelle die Allee hinunter, dem Strom entgegen.
Eudoxia versuchte ihr zu folgen; doch die Hitze lähmte sie bald, und als sie erschöpft und keuchend stehen blieb, sah sie, wie Katharina, die nun auf einmal wieder das alte Bachstelzchen geworden, an ihr vorbei und dem Kinde mit einer Schnelligkeit nachjagte, di