1. KAPITEL
Er zog sein Leinenhemd wieder an und setzte sich rittlings auf den Stuhl. Dort, wo der helle Stoff auseinanderklaffte, wurde Rafiks gebräunter, muskulöser Oberkörper sichtbar. Dadurch, dass er fast sieben Kilo an Gewicht verloren hatte, traten die Muskeln noch deutlicher hervor.
Sein Gesicht verriet nichts von dem Sturm, der in ihm tobte. Gegen den Drang ankämpfend, den grauhaarigen Franzosen von seinem Stuhl zu zerren und zu schütteln, ballte er die Fäuste.
Der Mann log. Er musste einfach lügen!
Aber das stimmte nicht. Nicht nur, dass der Arzt gute zwanzig Jahre älter war als er. Rafik merkte es sofort, wenn ihn jemand anschwindelte. Und dieser Mann war ehrlich. Er sagte die Wahrheit. Eine bittere Wahrheit zwar, die niemand gern hörte, aber die Wahrheit.
Rafik würde seinen fünfzigsten Geburtstag nicht mehr erleben. Oder, genauer gesagt, nicht einmal seinen dreiunddreißigsten.
Nachdem das Rauschen in seinen Ohren ein wenig abgeklungen war, ermahnte er sich immer wieder: „Du musst die Dinge nehmen, wie sie kommen.“
Das war so leicht gesagt.
Jahrelang in Selbstdisziplin geübt, gelang es ihm, Ruhe zu bewahren. Eine eisige Ruhe. „Wie viel Zeit bleibt mir noch?“
Pierre Henri strich seinen Anzug glatt und stand langsam auf. Bei seinem Ansehen hatte er keinen weißen Kittel nötig, um sich Respekt zu verschaffen. Er durchquerte den Raum, nahm die Röntgenbilder vom Leuchtschirm und ließ sie in den Umschlag gleiten. Dabei suchte er nach den passenden Worten.
Einem Patienten niederschmetternde Diagnosen beizubringen war eine der Tätigkeiten in seinem Beruf, die er am wenigsten schätzte. Aber so etwas gehörte auch dazu, und Pierre Henri stand in dem Ruf, hierin sehr einfühlsam zu sein. Normalerweise hatte er in solchen Situationen keine Probleme, die richtigen Worte zu finden.
Er wusste, wie wichtig die Körpersprache war – es kam nicht nur darauf an, was man sagte, sondern auch, wie man es tat. Natürlich hatte er auch gelernt, dass man behutsam vorgehen und unbedingt das Positive betonen musste, auch wenn es in einer solchen Lage kaum etwas Positives zu sagen gab. Aber für den Kranken machte so eine Ermutigung einen riesigen Unterschied.
So unterschiedlich seine Patienten auch waren, aufgrund jahrelanger Erfahrung wusste Pierre Henri, wie er mit jedem Einzelnen zu sprechen hatte.
Selbstverständlich gab es auch Ausnahmen. Und dieser Mann ist eine davon, dachte er, als er sich wieder auf seinen Stuhl sinken ließ.
Der finstere Blick seines Gegenübers hielt seinen fest, und Pierre merkte, wie er nervös wurde. Er war ein angesehener Arzt und ließ sich normalerweise nicht verunsichern. Doch nun, als ihn der Kronprinz von Zantara mit unergründlichem Blick aus silbergesprenkelten Augen ansah, schien es, als hätten Arzt und Patient die Rollen vertauscht.
Obwohl Rafik Al Kamil gerade eben die schlimmste Diagnose überhaupt erfahren hatte, war er derjenige, der das Heft in der Hand hatte.
Pierre wusste, dass es sinnlos war, zu versuchen, sich in seinen Patienten hineinzuversetzen. Dieser Mann war undurchschaubar – und zudem ein Einzelgänger. Keine dieser Eigenschaften war in seiner Macht und seinem Reichtum begründet. Obwohl die königliche Familie von Zantara in dieser Hinsicht Pierres oftmals begüterte und einflussreiche Patienten bei Weitem übertraf.
Pierre war ratlos. Erschütterung, Nicht-wahrhaben-Wollen und Wut – die Reaktio