: Verena Bentele, Philipp Stielow, Dr. Ines Verspohl
: Wir denken neu - Damit sich Deutschland nicht weiter spaltet
: Europa Verlag GmbH& Co. KG
: 9783958903623
: 1
: CHF 8.80
:
: Politik, Gesellschaft, Wirtschaft
: German
: 136
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Wir befinden uns in einer historisch einmaligen Situation. Die Corona-Pandemie verändert unser Land grundlegend - und sie zeigt uns in aller Schärfe, was gut und was schlecht ist. Viele Menschen befürchten, dass sich die Ungleichheit in Deutschland durch Corona weiter vertiefen wird. Mit der fortschreitenden Privatisierung des Sozialstaates vollzieht sich seit Langem eine immer rasantere soziale Spaltung des Landes: Ganze Regionen sind abgehängt, gleichzeitig ist Wohnraum in den Ballungszentren für Normalverdiener oft nicht mehr bezahlbar. Die Bewältigung von Lebensrisiken wird mehr und mehr dem Einzelnen überlassen. Große Teile der Mittelschicht kämpfen nicht mehr um den Aufstieg, sondern gegen den sozialen Abstieg. Die Gesellschaft ist gespalten, was Einkommen und Wohlstand betrifft, aber auch im Denken und Fühlen der Menschen. Die Corona-Krise wirkt wie ein Vergrößerungsglas für soziale Ungleichheiten, sie hat uns aber auch die Kraft und die Möglichkeiten von Staat und Gesellschaft gezeigt. Wenn es gut geht, erweist sich das Virus als ein Weckruf für starke Sozialsysteme, wenn nicht, wird es den Beginn einer beispiellosen Spaltung der Gesellschaft markieren. Denn ohne eine rasche Trendumkehr besteht die Gefahr, dass uns 'der Laden irgendwann auseinanderfliegt'. Dieses Buch zeigt die notwendigen Reformen und ihre Machbarkeit ganz konkret auf. Denn eine angemessene medizinische Versorgung, eine auskömmliche Rente, eine menschenwürdige Pflege, eine bessere Absicherung von Selbstständigen und ein Aufwachsen ohne Armut und Mangel für jedes Kind sind keine naiven Utopien, sondern realistische Ziele, die in anderen Ländern zum Teil schon erfolgreich umgesetzt wurden.

Verena Bentele holte als Biathletin und Skilangläuferin von 1995 bis 2011 vier Weltmeistertitel und wurde zwölf Mal Paralympics-Siegerin. 2011 schloss sie ein Magisterstudium in den Fächern Neuere Deutsche Literaturwissenschaft, Sprachwissenschaften und Pädagogik ab. Bereits vor Ende ihrer sportlichen Karriere begann sie, sich auf hoher Ebene sozialpolitisch zu engagieren. Von 2014 bis 2018 war sie die Behindertenbeauftragte der Bundesregierung. Seither leitet sie als Präsidentin den größten deutschen Sozialverband VdK. Philipp Stielow, Autor, Entwickler von Film- und Videoformaten, Projektleitung und Aufbau von VdK-TV, studierte Politik und Geschichte an der Goethe-Universität Frankfurt am Main sowie - mit Schwerpunkt Sozialpädagogik - an der Frankfurt University of Applied Science. Seit 2009 ist er Pressesprecher des Sozialverbands VdK Hessen-Thüringen und Leiter der Abteilung Medien- und Öffentlichkeitsarbeit. &# 3; Dr. Ines Verspohl absolvierte den Studiengang Europäische Studien an der Universität Osnabrück mit Schwerpunkt auf Wohlfahrtsstaaten im Europäischen Vergleich. Im Anschluss besuchte sie das Promotionskolleg »Arbeitnehmerinteressen und Mitbestimmung in einem Europäischen Sozialmodell« der Hans-Böckler-Stiftung. Seit 2018 ist sie Abteilungsleiterin Sozialpolitik beim VdK Deutschland.

GERECHTE RENTE STATT ALTERSARMUT


Altersarmut ist schon heute ein ganz konkretes Problem, doch für künftige Generationen wird die Situation noch deutlich düsterer werden, wenn wir nicht handeln. Als VdK-Präsidentin habe ich in den vergangenen Jahren viele ältere Menschen kennengelernt, die unter sehr schwierigen Bedingungen leben. Oft sind es Frauen. Sie erzählen mir dann, dass sie ihr Leben lang sehr hart gearbeitet haben, meist in Berufen mit überschaubarer Bezahlung. Zum Beispiel als Kassiererin, Pflegekraft oder in der Gastronomie. Nebenbei haben sie Kinder erzogen, sich um Eltern oder Schwiegereltern gekümmert oder kranke Angehörige versorgt. Oft haben sie auch in Regionen gewohnt, in denen es phasenweise sehr schwer war, einen halbwegs vernünftigen Arbeitsplatz zu finden, sodass sie immer wieder Zeiten durchlebt haben, in denen sie kaum etwas für ihr Rentenkonto tun konnten. Fast alle, die ich kennengelernt habe und die heute im Alter nur sehr wenig Geld zur Verfügung haben, sind nicht in diese Situation geraten, weil sie kaum oder gar nicht gearbeitet haben, im Gegenteil: Sie haben in der Regel sogar mehr kämpfen müssen als andere. Besonders häufig sind auch chronische Erkrankungen die Ursache für Armut im Alter. Bei Menschen, die aufgrund einer Erkrankung nicht mehr dauerhaft arbeiten können, spricht man von Erwerbsminderungsrentnern. In Deutschland ist laut Bundesarbeitsministerium jeder Siebte von ihnen auf ergänzende Sozialhilfe angewiesen, weil seine Erwerbsminderungsrente nicht ausreicht.9 Die sogenannten Abschläge, die Kürzungen ihrer Bezüge um bis zu 10,8 Prozent, müssen unbedingt wegfallen. Diese Menschen sind von ihrer Krankheit oft hart getroffen und dürfen nicht auch noch durch Rentenabzüge für ihre Situation bestraft werden.

Derzeit geht man statistisch davon aus, dass insgesamt fast 20 Prozent der Rentner von Altersarmut betroffen sind.10 Der Maßstab dafür ist die sogenannte Armutsgefährdungsquote. Mehr und mehr Menschen werden ihre Rente mit Grundsicherung im Alter aufstocken müssen, um ihre Existenz notdürftig abzusichern. Die Grundsicherung im Alter ist die Sozialhilfe bzw. das Hartz IV für Rentner. Um sie beantragen zu können, muss man erst einmal fast sein ganzes Erspartes aufbrauchen. Dann bekommt man Leistungen, die in etwa dem Niveau von Hartz IV entsprechen, und das, wie oben erwähnt, oft nach jahrzehntelanger harter Arbeit.

Oft höre ich das Argument, dass es in Deutschland doch gar keine Armut gebe, da Menschen ja Grundsicherung beantragen können. Häufig wird es von Personen vorgebracht, für die es selbstverständlich ist, genug Geld für Konzerte, Reisen oder Restaurantbesuche zu haben. Sie können sich gar nicht vorstellen, was es bedeutet, wenn man sich zwischen dem Zoobesuch mit den Enkelkindern und dem Einkauf von Obst oder Hustensaft entscheiden muss. Aber genau das ist das Schicksal, von dem wir sprechen. Die Vorstellung, dass sich Rentnerinnen oder Rentner teils zwischen ihrer Gesundheit und einem Geschenk für die Enkel entscheiden müssen, empfinde ich als sehr bedrückend. Studien beweisen, dass viele Menschen mit kleinen Renten sich schämen, zum Sozialamt zu gehen, zum Beispiel weil sie Angst vor Nachteilen für ihre Kinder und Enkel haben.11

In unseren Städten und Dörfern ist Altersarmut mittlerweile an zahlreichen Stellen sichtbar, zum Beispiel an der wachsenden Zahl von Rentnern, die ihr Essen von den Tafeln holen. Der Besuch bei der Tafel ist für diese Menschen demütigend und deprimierend. Deswegen sammeln auch immer mehr Rentner Flaschen, um das Pfand einzulösen, oder arbeiten in einem Minijob, buchstäblich bis sie tot umfallen. Ihre Zahl hat sich in den letzten 20 Jahren auf knapp eine Million verdoppelt.12 Grund dafür ist ganz oft der Zwang, sich noch etw