2. KAPITEL
Luzern
Schweiz
11. Dezember
Ganz Europa vernahm in diesem Jahr nur Katastrophenmeldungen.
In Deutschland wurde die Vergangenheit wieder aus der Versenkung geholt, als in Nürnberg das Kriegsverbrechertribunal den Prozeß um das Massaker in Katijn begann. Viertausend Leichen waren in der Nähe dieser kleinen polnischen Stadt ausgegraben worden, alle gefesselt und mit Kleinkaliberpistolen erschossen. Es handelte sich um die grausigen Überreste der ehemaligen Führungsriege der polnischen Armee.
Im selben Jahr sah Frankreich sich einer Großoffensive der Viet Minh gegenüber, in Korea tobte ebenfalls ein blutiger Krieg, und – zurück in Europa – wurde zwischen Westberlin und der Sowjetischen Besatzungszone, deren Gebiet die Stadt vollkommen umschloß, der eiserne Vorhang heruntergelassen. Es war das endgültige Zeichen des Kreml, dass es keinen Frieden geben würde.
Was noch? In Großbritannien waren immer noch die Kriegsrationierungen gültig, Eva Perón starb, der Republikaner Dwight D. Eisenhower schlug seinen Rivalen der Demokratischen Partei, Adlai Stevenson, bei den Präsidentschaftswahlen in Amerika, und in Hollywood erlebte die Welt einen Lichtblick in diesem ansonsten eher trüben Jahr: das Filmdebüt eines entzückenden blonden Starlets namens Marilyn Monroe.
Manfred Kass interessierte das alles nicht besonders, als er an diesem kalten Dezembermorgen durch die Wälder vor der alten Schweizer Stadt Luzern stapfte. Auch wenn er es nicht ahnte, sollte dies ein Tag von weitreichender Bedeutung werden.
Kass kam von der Nachtschicht in einer kleinen, aber florierenden Bäckerei, die noch in Familienbesitz war. Er hatte an diesem Samstagmorgen um sieben seine Schicht beendet, ging aber nicht nach Hause, sondern auf Kaninchenjagd. Das war ihm am Wochenende zur Gewohnheit geworden, weil seine Frau es haßte, wenn er nachts arbeitete. Hilda Kass war ein Morgenmuffel, und am Wochenende schlief sie gern aus. Also versuchte ihr Ehemann, jeden Samstagmorgen den Haussegen zu retten, und ging in den Gütschiwald westlich von Luzern, um Kaninchen zu schießen.
Es wurde schon hell, als Kass seinen alten schwarzen Opel auf der Straße vor dem Wald parkte. Er wickelte die einläufige Schrotflinte aus der Decke auf dem Rücksitz. Es war eine Mansten Kaliber 12, eine zwar veraltete, aber verläßliche Waffe. Kass stieg aus und schloß den Wagen ab. Er schob eine Patrone in den Lauf, klappte die Waffe aber nicht zu. Er steckte einen Karton Patronen in die Tasche seiner Jagdjacke und stapfte in den Wald.
Kass war zweiunddreißig, groß und unbeholfen. Er hatte einen schweren Gang und humpelte ein wenig. Plump war er immer schon gewesen, das Humpeln jedoch war eine unschöne Erinnerung an die Schlacht um Kiew elf Jahre zuvor. Obwohl von Geburt Deutscher, hatte Kass es nicht sonderlich gefallen, in Hitlers Wehrmacht einberufen zu werden. Er wollte vor dem Krieg nach Luzern emigrieren, wo der Onkel seiner Frau eine Bäckerei führte. Aber er hatte Deutschland zu spät verlassen, so wie er vieles in seinem Leben zu spät getan hatte.
»Vertrau mir, Hilda«, hatte Kass seiner Frau versichert, als man von einem bevorstehenden Krieg munkelte. Sie hatte vorgesc