Im Kampf gegen Nazideutschland Die Berichte der Frankfurter Schule für den amerikanischen Geheimdienst 1943-1949
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Franz Neumann, Herbert Marcuse, Otto Kirchheimer
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Raffaele Laudani
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Im Kampf gegen Nazideutschland Die Berichte der Frankfurter Schule für den amerikanischen Geheimdienst 1943-1949
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Campus Verlag
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9783593434209
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Frankfurter Beiträge zur Soziologie und Sozialphilosophie
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1
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CHF 31,90
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20. Jahrhundert (bis 1945)
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German
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812
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Wasserzeichen/DRM
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PC/MAC/eReader/Tablet
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PDF/ePUB
Während des Zweiten Weltkriegs arbeiteten Franz Neumann, Herbert Marcuse und Otto Kirchheimer, die in den 1930er Jahren vor der nationalsozialistischen Verfolgung ins Exil in die USA geflohen waren, für das Office of Strategic Services, den Vorläufer der CIA. Zwischen 1943 und 1949 versorgten sie die Amerikaner mit umfangreichen Dossiers über das politische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Leben in der NS-Diktatur, über Hitlers Kriegsstrategien und die Rolle des Antisemitismus. Darüber hinaus entwarfen sie Pläne für den Wiederaufbau einer demokratischen Gesellschaft nach dem Zusammenbruch des »Dritten Reichs«. So spielten sie bei der Entwicklung der alliierten Nachkriegspolitik, den Entnazifizierungsprogrammen und der Vorbereitung der Nürnberger Prozesse eine maßgebliche Rolle.
Franz Neumann (1900 - 1954), gilt als einer der Begründer der Politikwissenschaft in Deutschland; er lehrte seit 1948 als Professor an der Columbia University in New York. Herbert Marcuse (1898 - 1979) zählt zu den Hauptvertretern der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule; 1964 wurde er Professor an der University of California in San Diego. Otto Kirchheimer (1905 - 1965) lehrte ab 1955 Politikwissenschaft an der New School for Social Research in New York. Raffaele Laudani ist Professor für die Geschichte der politischen Theorie an der Universität Bologna.
Vorwort
Zum traditionellen Bild der Frankfurter Schule gehört die Vorstellung, dass es sich dabei um einen Kreis von jüdischen Linksintellektuellen gehandelt hat, der sich aufgrund seiner skeptischen Einschätzung politischer Handlungsmöglichkeiten auf die bloße Analyse der Strukturwandlungen der kapitalistischen Gesellschaftsordnung beschränkte; zwar mochten einzelne Mitglieder des Kreises von dieser Einschätzung ausgenommen werden, weil sie der einen oder anderen Fraktion der Arbeiterbewegung angehörten, aber im Großen und Ganzen war man doch über einen langen Zeitraum hinweg der Überzeugung, dass sich die Vertreter des Instituts für Sozialforschung in ihrem selbstgewählten Elfenbeinturm recht wohlgefühlt haben. Dass dieses Bild falsch ist, weil es anders gelagerte, praktisch-politisch gerichtete Stränge der Schule sträflich vernachlässigt, haben in den letzten Jahrzehnten bereits nachdrücklich eine Reihe von Studien bewiesen - eine zureichende Vorstellung von Adorno ist, wie wir heute wissen, nur zu erhalten, wenn man in ihm auch den um die Demokratisierung Westdeutschlands bemühten Intellektuellen wahrzunehmen bereit ist (zum Beispiel Demirovi? 1999; Freyenhagen 2014). Für die am Institut für Sozialforschung beschäftigten Juristen und politischen Wissenschaftler muss gelten, dass sie kontinuierlich am Kampf der Arbeiterbewegung um Verbesserungen der Lebensbedingungen des Proletariats beteiligt waren (exemplarisch Luthardt 1976; Scheuerman 1997 [1994]). Ein vollständiges Bild dieser anderen, politisch aktiven Seite der Frankfurter Schule ist jedoch wohl erst zu gewinnen, wenn man das Buch zur Kenntnis nimmt, das wir hiermit in unserer Reihe veröffentlichen: Es enthält die bislang identifizierten Berichte, die Herbert Marcuse, Franz Neumann und Otto Kirchheimer im Zeitraum zwischen 1943 und 1949 für die Research and Analysis Branch des in Washington beheimateten Office of Strategic Services (OSS) im Abwehrkampf gegen das nationalsozialistische Deutschland verfasst haben.
Die äußerst schwierige Aufgabe, anhand von unterschiedlichen Indikatoren aus der Unmasse der anonymisierten Geheimdienstberichte des OSS diejenigen herauszufiltern, die von diesen drei Mitgliedern des ins Exil getriebenen Instituts für Sozialforschung als Auftragsarbeiten verfertigt wurden, ist dem italienischen Ideenhistoriker Raffaele Laudani gelungen; mittels aufwendiger und mühevoller Recherchen in den US-National Archives in College Park, Maryland, wo die zum Zweck der Bekämpfung Nazideutschlands erstellten Berichte nach 1975 öffentlich zugänglich gemacht wurden, hat er am Ende 31 Schriftstücke identifizieren können, die mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit der Autorenschaft entweder von Herbert Marcuse, Franz Neumann oder Otto Kirchheimer zugerechnet werden können. Mit seiner Herausgabe dieser Geheimdienstberichte hat Laudani nach jetzigem Kenntnisstand die äußerst verdienstvolle Arbeit vorerst einmal vollendet, die Alfons Söllner (1986a und 1986b) und Peter-Erwin Jansen (Marcuse 1998) mit ihren jeweiligen Auswahlbänden von Beiträgen der drei beim OSS tätigen Vertreter der Frankfurter Schule schon vor geraumer Zeit begonnen hatten.
Als das von Laudani herausgegebene Buch mit den von Kirchheimer, Marcuse und Neumann in geheimer Mission geschriebenen Analysen 2013 in der Princeton University Press erschien, sorgte das sofort für große Aufmerksamkeit in der intellektuellen Öffentlichkeit der USA; schwarz auf weiß war hier zu lesen, welchen Beitrag zumindest eine Untergruppe des stets als ein wenig versponnen und überdies als dogmatisch-marxistisch angesehenen Zirkels der Frankfurter Schule zum Kampf der Alliierten gegen den nationalsozialistischen Kriegsgegner geleistet hatte (vgl. Scheuerman 2013). Zur Paradoxie der Wirkungsgeschichte dieses Theoriezirkels gehört es, dass die in mittelmäßigem Englisch geschriebenen Geheimdienstberichte nun für unsere Veröffentlichung erst in die Sprache zurückübersetzt werden mussten, die ihre Autoren zu schreiben gelernt hatten und die ihnen stilistisch daher immer wieder in die Parade fuhr; in ihren kurzen Anmerkungen berichtet die Übersetzerin von den Schwierigkeiten, vor die sie die daraus resultierenden Hybridgebilde in Syntax und Semantik bei ihrer Arbeit regelmäßig gestellt haben. Dass die umfangreiche Übersetzung vom Institut für Sozialforschung aber überhaupt gestemmt werden konnte, verdankt sich einer großzügigen Spende der Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur; schon an dieser Stelle möchte ich mich ganz herzlich bei Jan Philipp Reemtsma bedanken, der vor knapp zwei Jahren schnell und unkompliziert meiner Bitte nachgekommen ist, uns bei dem unsere ökonomischen Möglichkeiten weit übersteigenden Vorhaben finanziell unter die Arme zu greifen.
Was dank dieser Hilfe entstanden ist, stellt ein in die Muttersprache der Verfasser rückübersetztes Dokument dar, das ein einzigartiges Kapitel in der verschlungenen Geschichte des seit 1930 von Max Horkheimer geleiteten Instituts für Sozialforschung bildet. Auch wenn die drei Autoren nicht im Auftrag des Instituts gehandelt haben, als sie im Jahr 1943 der Einladung des OSS folgten, ihre intellektuellen Fähigkeiten und Deutschlandkenntnisse dem geheimdienstlichen Kampf gegen das nationalsozialistische Deutschland zur Verfügung zu stellen, spiegelt sich in ihren zu diesem Zweck verfassten Berichten doch dessen Geist und Arbeitsweise aufs Genaueste. Marcuse, Neumann und Kirchheimer, die in Hinblick auf akademische Herkunft, theoretische Ausrichtung und politische Orientierung zunächst wenig miteinander teilten, waren auf sehr unterschiedlichen Wegen zum Kreis um Max Horkheimer gestoßen: Marcuse war bekanntlich Doktorand von Heidegger in Freiburg gewesen, bevor er sich in bitterer Enttäuschung über die nationalsozialistische Gesinnung seines Lehrers an das bereits nach Genf umgesiedelte Institut wandte, um an der Ausarbeitung der philosophischen Grundlagen einer kritischen Gesellschaftstheorie mitzuarbeiten; Neumann, der Rechtswissenschaften, Philosophie und Ökonomie studiert hatte, war als für die SPD tätiger Arbeitsrechtler schon 1933 zur Flucht nach London gezwungen gewesen, von wo aus er drei Jahre später auf Anraten von Harold Laski dem Institut seine Dienste anbot, dem er als juristisch informierter Fachmann für die Strukturanalyse des sich wandelnden Kapitalismus zur Verfügung stehen wollte; und Kirchheimer, vormals Doktorand von Carl Schmitt an der Universität Bonn, nahm seine Kooperation mit dem Institut im Pariser Exil auf, wohin er mit Hilfe eines Stipendiums der London School of Economics 1933 geflohen war, weil er als sozialistisch orientierter Jurist unter der beginnenden Diktatur der Nazis verfolgt zu werden drohte. So unterschiedlich die Wege zum Institut für Sozialforschung für die drei Wissenschaftler mithin auch gewesen sind, man fand sich dann schließlich im New Yorker Exil zusammen, wo Max Horkheimer für sein Unternehmen eine vorläufige Bleibe an der Columbia University gefunden hatte. Wie es dort zu einer engeren Verbindung zwischen Marcuse, Neumann und Kirchheimer hat kommen können, die ja dann nach 1943 gemeinsam als Team für das OSS tätig werden sollten, ist im Rückblick kaum mehr auszumachen; die drei Exilanten trafen zu verschiedenen Zeiten in New York ein, verfolgten weit auseinanderliegende Forschungsinteressen und übernahmen überdies am Institut auch höchst unterschiedliche Aufgaben, für die als gemeinsamer Nenner nur gelten kann, dass sie eher an der Peripherie als im Zentrum der bald wieder aufgenommenen Forschungstätigkeit angesiedelt waren. Derjenige unter ihnen, der die größte Befähigung mitbrachte, die Eigenart der sich im fernen Deutschland etablierenden Nazidiktatur zu analysieren, war ohne Frage Franz Neumann; insofern darf er auch als die Person gelten, durch die das 1941 durch Dekret von Präsident Roosevelt gegründete Office of Strategic Services auf die brachliegenden und zukünftig zu nutzenden Kompetenzen der drei so verschiedenen Männer aufmerksam wurde.
Schon im Jahr 1933, kurz nach seiner Ankunft in London, hatte Neumann in der Zeitschrift The Political Quarterly einen Aufsatz mit dem Titel The Decay of German Democracy (Neumann 1978 [1933]) veröffentlicht, in dem sich vieles von dem vorweggenommen findet, was er im amerikanischen Exil zum Gegenstand seiner weiteren Forschungen machen sollte. Anders als im Kreis um Horkheimer, in dem man damals unter Federführung von Friedrich Pollock die These vertrat, dass im sich abzeichnenden Herrschaftssystem des Nationalsozialismus die Steuerungshoheit vom kapitalistischen Markt auf den zentralisierten Staat übergegangen sei (exemplarisch Pollock 1975a [1941]), war Neumann in seinem Aufsatz vom Fortwirken kapitalistischer Imperative auch unter den neuen politischen Rahmenbedingungen überzeugt; seiner Auffassung zufolge, für die er mit einem erstaunlichen Maß an ökonomischem Sachverstand argumentierte, hatte sich unter der nationalsozialistischen Parteiherrschaft nur ein Gestaltwandel der kapitalistischen Wirtschaftsform vollzogen, der darin bestand, mit Hilfe von diktatorischen Maßnahmen alle Macht zur Gestaltung des Marktes den beiden Großgruppen des Monopolkapitals und der Großgrundbesitzer zu übertragen. Hinter diesen unterschiedlichen Deutungen der Entstehung und Funktion der Nazidiktatur verbargen sich tieferliegende Differenzen, die weit bis in die gesellschaftstheoretischen Grundannahmen reichten: Während bei Horkheimer und seinem Kreis, also im Zentrum des Instituts für Sozialforschung, die Neigung bestand, gesellschaftliche Herrschaft als einlinig von oben nach unten verlaufend aufzufassen, ging Neumann eher davon aus, dass Herrschaft innerhalb eines gesellschaftlichen Systems nur bei Kompromissbildung unter verschiedenen, je nach rechtlicher Grundlage unterschiedlich vielen Gruppen aufrechtzuerhalten ist. Diese Sichtweise, die den Normalfall eines Pluralismus jeweils herrschender Gruppierungen unterstellte und daher die konflikthaften Prozesse der Interessenabstimmung ins Zentrum rücken ließ, blieb für Franz Neumann auch richtungsweisend, als er sich im New Yorker Exil an die Abfassung einer systematischen Studie zur Genese und Struktur der neuen, nationalsozialistischen Herrschaftsordnung machte; das Ergebnis der sich über fünf Jahre erstreckenden Recherchen, die 1942 in der ersten Auflage veröffentlichte Monografie Behemoth, kann nicht nur trotz aller offensichtlichen Mängel als ein bis heute maßgeblicher Beitrag zur Erforschung der Nazidiktatur gelten (Hilberg 2002; Schäfer 1977); vielmehr diente diese Studie den drei ein wenig später beim OSS beschäftigten Vertretern der Frankfurter Schule auch so stark als gemeinsamer Analyserahmen ihrer geheimdienstlichen Forschungstätigkeit, dass es gerechtfertigt scheint, mit Alfons Söllner von dem Triumvirat nur als der 'Neumann-Gruppe' zu sprechen (Söllner 1986c).
Bereits in dem Begriff, den Neumann in seiner Studie wählte, um die Eigenart des nationalsozialistischen Gesellschaftssystems zu charakterisieren, kam der ganze Abstand zu der im Horkheimer-Zirkel bevorzugten Deutungsperspektive zum Tragen: Wurde dort im Anschluss an Friedrich Pollock das NS-Regime als 'staatskapitalistisches' Gebilde bezeichnet - eine Formulierung, die in ihrer Abhebung auf die steuernde Wirkung eines hochgradig zentralisierten Staates auch für die Dialektik der Aufklärung noch bestimmend bleiben sollte (vgl. Honneth 1989 [1985]: Kap. 2) -, so sprach Neumann vom 'totalitären Monopolkapitalismus', wenn es um die Eigenschaften des Gesamtsystems ging (Neumann 1977 [1942/1944]: 313). Beide Bestandteile dieses Begriffs besitzen in Behemoth eine zentrale Bedeutung, die angemessen zu verstehen eine notwendige Voraussetzung für den Nachvollzug der Stoßrichtung der hier vorliegenden Geheimdienstberichte von Kirchheimer, Marcuse und Neumann bildet. Mit dem Ausdruck 'totalitär' zielte der Autor zunächst einmal auf die politische Dimension der neuen Herrschaftsordnung, die er allerdings nicht im Sinne der umfassend wirksamen Gewalttätigkeit eines einzigen, strikt zentral gesteuerten Staatsorgans aufgefasst wissen wollte; stattdessen unterstellte er ganz im Sinne seiner schon zuvor entwickelten Überlegungen eine Pluralität unterschiedlicher Herrschaftsgruppen, zu denen nach der 1933 einsetzenden Ausschaltung der Organisationen der Arbeiterklasse nur noch die Spitzen der NS-Partei, des Monopolkapitals, der Staatsbürokratie und des Militärs gehören sollten. Die uneingeschränkte Vormachtstellung dieser nunmehr vier Gruppierungen war aus der Sicht von Neumann möglich geworden, weil der inzwischen weitgehend durch kapitalistische Monopolunternehmen dominierte Markt einer Regulierung durch das liberale Rechtssystem nicht mehr bedurfte, so dass jegliche Nötigung zur Bewahrung zumindest des Anscheins allgemeinverbindlicher Gesetze weggefallen war (vgl. Iser und Strecker 2002: 14-17). 'Totalitär' hieß daher im Behemoth zunächst einmal, dass die Herrschaftsausübung ungehindert von allen rechtlichen Kontrollen allein den Eliten der Partei, der monopolistischen Betriebe, der Staatsverwaltung und des Militärs überlassen war, die ihre jeweiligen Funktionen nur in strikter Abhängigkeit voneinander ausüben konnten
'Die Armee braucht die Partei, weil der Krieg total ist. Die Armee ist außerstande, die Gesellschaft ?total? zu organisieren; das ist Sache der Partei. Andererseits ist die Partei auf die Armee angewiesen, um den Krieg zu gewinnen und damit ihre eigene Macht festigen und sogar vergrößern zu können. Beide brauchen die monopolistische Industrie, die ihnen für die kontinuierliche Expansion bürgt. Und alle drei brauchen die Bürokratie, um die technische Rationalität zu erlangen, ohne die das System nicht funktionsfähig wäre.' (Neumann 1977 [1942/1944]: 460)
Weil diese vier Gruppierungen freilich jeweils so souverän waren, dass sie innerhalb ihrer vorgegebenen, arbeitsteilig ineinandergreifenden Zwecke stets eigene Interessen verfolgen konnten, bedurfte es untereinander ständiger Absprachen und Aushandlungen, um sich auf gemeinsame Ziele und entsprechende Maßnahmen einigen zu können. Erleichtert wurde das Zustandekommen solcher Kompromisse aus der Sicht Neumanns dadurch, dass man wechselseitig an die ökonomischen Imperative gebunden war, die die monopolistisch vereinseitigte Marktwirtschaft von sich aus vorgab; insofern mussten alle Regelungen, auf die sich die an der Herrschaftsausübung beteiligten Gruppierungen in konflikthaften Verhandlungen festzulegen vermochten, die Auflage erfüllen, die kapitalistischen Verwertungsbedingungen der Monopolunternehmen langfristig sicherzustellen. Kompromissgestützte Gewaltherrschaft von vier Machteliten zugunsten eines monopolistisch organisierten Wirtschaftssystems war, was Franz Neumann vor Augen hatte, als er in seinem Behemoth die Gesamtverfassung des nationalsozialistischen Herrschaftssystems als einen 'totalitären Monopolkapitalismus' bezeichnete.
Dieser diagnostische Schlüsselbegriff, in dem bereits sowohl die Stärken als auch die Schwächen, die Einsichten als auch die blinden Flecke der im Behemoth entwickelten Analyse angelegt sind, gab dann auch die Perspektive vor, aus der heraus sich Franz Neumann in seiner Studie die Möglichkeit einer erfolgreichen Bekämpfung des NS-Regimes auszumalen versuchte. Sein Augenmerk war dabei vor allem auf die Zerschlagung der kapitalistischen Monopolwirtschaft mit Hilfe einer von außen wieder zur einstigen Machtfülle verholfenen Arbeiterbewegung gerichtet; in diesem Sinn heißt es schon am Ende der ersten Auflage des Behemoth im Jahre 1942:
'Um die Aggression zu beseitigen, muß außer der Entmachtung von Partei, Wehrmacht und hoher Bürokratie die Macht der Monopolwirtschaft endgültig gebrochen werden und die ökonomische Struktur Deutschlands grundlegend verändert werden. [...] Der Sturz dieses Regimes kann einzig durch das bewußte Handeln der diese Risse und Brüche [im nationalsozialistischen Deutschland; A.H.] ausnützenden Massen erfolgen.' (Ebd.: 549 f.)
In deutlichem Unterschied zu der pessimistischen Geschichtsbetrachtung, die zur selben Zeit um Horkheimer und Adorno im Zentrum des Instituts vorherrschte, schien Neumann also weiterhin von der Unempfindlichkeit großer Teile der deutschen Bevölkerung gegenüber der nationalsozialistischen Propaganda überzeugt; es bedurfte aus seiner Sicht nur der alliierten Unterstützung bei der Wiederaufrichtung der zuvor gewaltsam ausgeschalteten Arbeiterorganisationen, um in einer gemeinsamen Kraftanstrengung das Übel des monopolistisch organisierten Wirtschaftssystems überwinden zu können, das von ihm in letzter Instanz als ursächlich für die fatale Entwicklung in Deutschland angesehen wurde. Als sei die Kontinuität der weit in das 19. Jahrhundert zurückreichenden Geschichte der Arbeiterbewegung durch die zivilisatorische Katastrophe nicht zerrissen worden, wird noch einmal das Bild einer Umsetzung kritischer Theorie in revolutionäre Praxis umrissen.
Nimmt man diesen trotz aller nüchtern-realistischen Einsichten am Ende doch zuversichtlichen, noch ganz auf eine sozialistische Zukunft setzenden Grundton des Behemoth zur Kenntnis, so kann nicht überraschen, dass es einige Irritationen gab, als die drei Vertreter des Instituts dann schließlich im Laufe des Jahres 1943 die Räume der Research and Analysis Branch des OSS in Washington bezogen, um hier ihre nachrichtendienstliche Tätigkeit aufzunehmen. Am schönsten hat John H. Herz, ein ehemaliger Doktorand Hans Kelsens, der ebenfalls in die USA emigriert war und nun für den Geheimdienst tätig zu werden begann, beschrieben, wie man auf den Dienstantritt des illustren Gespanns unter den Mitarbeitern reagierte: 'Es war', so heißt es ironisch in seiner Autobiografie, 'als hätte sich der linkshegelianische Weltgeist vorübergehend in der Mitteleuropäischen Abteilung des OSS angesiedelt.' (Herz 1984: 136) Allerdings ist im Folgenden dann auch zu lesen, dass von dieser revolutionären Gesinnung der Gruppe um Franz Neumann schon zu Beginn ihrer Tätigkeit nur die Überzeugung geblieben war, das 'nachnazistische Deutschland' müsse eine Demokratie sein, 'die den Weg zum Sozialismus zulassen würde' (ebd.). Auf jeden Fall schlug sich das, was Neumann in seinem Behemoth an Analyse der 'Struktur und Praxis des Nationalsozialismus' geliefert hatte, von nun an in den von den drei neuen Mitarbeitern verfassten Geheimdienstberichten bis in einzelne Details nieder; auch Otto Kirchheimer und Herbert Marcuse, so getrennt ihre Wege hin zum OSS auch verlaufen waren, hatten die Ergebnisse der Recherchen ihres Freundes so weit übernommen, dass dessen These eines 'totalitären Monopolkapitalismus' den Rahmen ihrer gemeinsamen Forschungstätigkeit bildete.
Dementsprechend lenkten Kirchheimer, Marcuse und Neumann ihre Aufmerksamkeit dann auch sofort auf die Absprachen, mit deren Hilfe sich die vier herrschenden Gruppierungen in Nazideutschland jeweils bar aller rechtlichen Absicherungen auf zu ergreifende Maßnahmen der Kriegsführung, der Feindbekämpfung und der wirtschaftlichen Versorgung zu einigen versuchten. Die drei 'Linkshegelianer' widersprachen von Beginn an entschieden der in den amerikanischen Geheimdienstkreisen verbreiteten Vorstellung, nach der es vor allem die Absichten und Belange der Vertreter des preußischen Militarismus waren, die sich hinter der aggressiven Expansionspolitik der Nazis verbargen; immer wieder richtete das Gespann dagegen den Blick auf die an technischen Erfolgskriterien orientierten, gerade nicht die traditionellen Militärtugenden berücksichtigenden Handlungsstrategien, mit denen im engen Bündnis zwischen monopolistischen Wirtschaftsführern und der zunehmend die Vorherrschaft gewinnenden Parteispitze die nächsten Schritte im Vernichtungsfeldzug geplant wurden. Es dürfte nun, da das ganze Konvolut der Geheimdienstberichte der Neumann-Gruppe vorliegt, Aufgabe zukünftiger Forschung sein, aus der Masse der Aufzeichnungen und Stellungnahmen das Bild herauszuschälen, das damals vom Nationalsozialismus auf dem Höhepunkt des Krieges entworfen werden sollte; es zeichnet sich ab, dass einige Elemente des Behemoth im laufenden Prozess stillschweigend ei
Je massiver die Niederlagen der deutschen Wehrmacht an den verschiedenen Fronten wurden und parallel dazu die Durchhaltebereitschaft der Zivilbevölkerung im Schwinden begriffen war, so dass sich ein Sieg der alliierten Mächte abzuzeichnen begann, desto stärker erging an die Neumann-Gruppe im OSS die Aufforderung, ihre Arbeit der strategischen Vorbereitung der Nachkriegssituation zu widmen; zum einen hieß dies, die Möglichkeiten einer strafrechtlichen Verfolgung der für den nationalsozialistischen Terror Verantwortlichen juristisch zu erkunden, zum anderen, die Bedingungen eines politischen Wiederaufbaus nach Maßgabe der alliierten Militärregierung zu ermitteln. Auf beide Aufgaben stürzten sich die drei Intellektuellen, wie hier am IV. und V. Teil der Geheimdienstberichte unschwer festzustellen ist, mit großer Energie, Begeisterung und einem stupenden Detailwissen um die Vorgänge im fernen Deutschland, ergab sich doch damit die Chance, den seit Beginn des Exils schmerzlich empfundenen Abstand zwischen Theorie und Praxis endlich wieder zu verringern. Der ganze Elan, mit dem diese neue Aufgabe aufgenommen wurde, unterstreicht zudem noch einmal, wie irreführend die These stets war, dass sich die Vertreter des Instituts für Sozialforschung mit der Lage erzwungener Handlungslosigkeit je gütlich abgefunden oder sich darin sogar wohlgefühlt hätten.
Was die erste der beiden Aufgaben anbelangte, also die Vorbereitung der von amerikanischer Seite ins Visier genommenen Gerichtsverfahren gegen die Protagonisten des nationalsozialistischen Regimes, so fiel sie weitgehend in die Hände von Kirchheimer und Neumann, die als Juristen dafür unzweideutig über die größeren Kompetenzen verfügten; zeitweilig unterstützt durch ihren Kollegen John H. Herz, machten sich beide an die Lösung des Problems, rechtliche Argumente zu entwickeln, die es den geplanten Strafprozessen erlauben würden, unter Umgehung des Rückwirkungsverbots andersgelagerte, höhere Rechtsgrundsätze gegen die prospektiven Angeklagten ins Spiel zu bringen. Mit den Überlegungen, die zu diesem Zweck in den verschiedenen Berichten erarbeitet wurden, hat die Gruppe um Neumann, wie wir inzwischen aus Forschungsbeiträgen wissen (zusammenfassend Perels 2002), en
Der vorlie
Axel Honneth
Frankfurt am Main, im August 2015
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