Wie es sich versteht, gehört auch der kleine Saal, in dem sich an diesem Abend die Delegation aus Xi’an mit den Kollegen aus Yan’an zum Abendessen eingefunden hat, zur »Abteilung für Privilegierte«, liegt mithin in einem abgelegenen, höheren Flügel des Gebäudes. Hier werden die abgenagten Hühnerknöchel, Fischköpfe, Gräten und Entenfüße, die ausgesaugten Krebsschwänze und auch die Zigarettenkippen in halbstündiger Regelmäßigkeit vom Steinboden zusammengekehrt. Hier gleiten die Getränke aus größeren, schmuckvolleren Behältern in Gläser, die umstandslos nachgefüllt werden. Hier spielt im Hintergrund ein leierndes Grammophon rumpelnde Tanzweisen, und die Kellnerinnen tragen dunkelrote, hochgeschlitzte Röcke aus Samt oder einem Samtimitat, deren Saum gut zwei Handbreit über dem Knie endet.
Leo Zwirn empfindet an diesem Abend nach langer Zeit ein Gefühl von, nein, nicht von Heimat, doch, wie er einen Tag später in einem Brief an seinen Vetter festhält, »von einem anarchischen Zuhause. Jedenfalls einem vorläufigen Zuhause, in dem viele Regeln gelten und sofort wieder aufgehoben werden, wenn sich das Machtgefüge auch nur geringfügig ändert. Alles so wohltuend unaufgeräumt. Die Regeln laufen durcheinander wie Hühner in einem Hof, über dem mehrere Habichte kreisen. Als sogenannter Experte bin ich teils Habicht, teils Huhn. Aber was genau meine Aufgabe ist, hat man mir noch nicht mitgeteilt. Der Direktor des Museums will, dass ich als sowjetischer Fachmann seine Position stütze, der Parteikommissar, so habe ich nach dem gestrigen Abendessen den Eindruck, will mich am liebsten loswerden, hat aber wohl die Weisung aus Peking, an mir festzuhalten. Gut, das haben mir die Kollegen so erzählt, als deren Augäpfelchen nach acht Lagen Hirseschnaps schon längst tizianrot umrandet und ihre Gürtelschnallen längst keine Fesseln mehr waren.«
Zwirn überlegt kurz, ob das Bild der Gürtelschnalle als Fessel des Leibes nicht zu gewollt literarisch klingt, schlimmer noch: nach einem s