: Tilman Spengler
: Made in China Roman
: Transit Buchverlag
: 9783887474034
: 1
: CHF 20,80
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 260
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Wer hat sie erschaffen, diese geheimnisvollen Krieger aus Terrakotta, Soldaten einer unterirdischen Armee, die während der chinesischen Kulturrevolution das Licht der Welt erblickten? Aufregend, fundiert und voller verrückter Einfälle schreibt Tilman Spengler, profunder Chinakenner und begnadeter Erzähler, über den russischen Kunsthistoriker und Lebenskünstler Leo Zwirn. Diesen verbannt das Schicksal in ein von allen Lebensgeistern verlassenes Museum tief in der chinesischen Provinz, das bald darauf von den Roten Garden als 'rückwärtsgewandt' angegriffen und zerstört werden soll. Spengler schreibt über den virtuosen Umgang mit der Wahrheit, die hohe Kunst des Fälschens, über die Vertreibung fanatischer Rotgardistinnen durch entschlossene Kinderfrauen und nicht zuletzt über den 'Stählernen Wu', jenen beinharten Parteikader und unfreiwilligen Drahtzieher bei der 'Erschaffung' der bald weltberühmten Terrakotta-Armee von Xi'an. Ein aufregender, komischer, mit viel Wissen erzählter Roman über China, die Kulturrevolution - und eine Ode an die subversive Kreativität.

Als 15-jähriger wurde Tilman Spengler in Oberhausen vom damaligen Erzbischof von Taipeh gefirmt. 1991 erschien der Band 'Geistermauern', Spenglers erstes Buch über China. In seinen Romanen 'Der Maler von Peking' (1993) und 'Die Stirn, die Augen, der Mund' (1999) beschäftigte er sich weiter mit der sinnlichen Wahrnehmung von und in fremden Kulturen. Spengler hat viele Jahre in China verbracht, als Forscher, als Journalist, als Berater - am liebsten als Beobachter und Gast. Zweimal traf ihn das offizielle Verdikt, 'kein guter Freund' des Landes zu sein. Tilman Spengler wurde berühmt durch seinen Bestseller 'Lenins Hirn' sowie durch seine langjährige Herausgeberschaft der Zeitschrift 'Kursbuch'.

1


Wie es sich versteht, gehört auch der kleine Saal, in dem sich an diesem Abend die Delegation aus Xi’an mit den Kollegen aus Yan’an zum Abendessen eingefunden hat, zur »Abteilung für Privilegierte«, liegt mithin in einem abgelegenen, höheren Flügel des Gebäudes. Hier werden die abgenagten Hühnerknöchel, Fischköpfe, Gräten und Entenfüße, die ausgesaugten Krebsschwänze und auch die Zigarettenkippen in halbstündiger Regelmäßigkeit vom Steinboden zusammengekehrt. Hier gleiten die Getränke aus größeren, schmuckvolleren Behältern in Gläser, die umstandslos nachgefüllt werden. Hier spielt im Hintergrund ein leierndes Grammophon rumpelnde Tanzweisen, und die Kellnerinnen tragen dunkelrote, hochgeschlitzte Röcke aus Samt oder einem Samtimitat, deren Saum gut zwei Handbreit über dem Knie endet.

Leo Zwirn empfindet an diesem Abend nach langer Zeit ein Gefühl von, nein, nicht von Heimat, doch, wie er einen Tag später in einem Brief an seinen Vetter festhält, »von einem anarchischen Zuhause. Jedenfalls einem vorläufigen Zuhause, in dem viele Regeln gelten und sofort wieder aufgehoben werden, wenn sich das Machtgefüge auch nur geringfügig ändert. Alles so wohltuend unaufgeräumt. Die Regeln laufen durcheinander wie Hühner in einem Hof, über dem mehrere Habichte kreisen. Als sogenannter Experte bin ich teils Habicht, teils Huhn. Aber was genau meine Aufgabe ist, hat man mir noch nicht mitgeteilt. Der Direktor des Museums will, dass ich als sowjetischer Fachmann seine Position stütze, der Parteikommissar, so habe ich nach dem gestrigen Abendessen den Eindruck, will mich am liebsten loswerden, hat aber wohl die Weisung aus Peking, an mir festzuhalten. Gut, das haben mir die Kollegen so erzählt, als deren Augäpfelchen nach acht Lagen Hirseschnaps schon längst tizianrot umrandet und ihre Gürtelschnallen längst keine Fesseln mehr waren.«

Zwirn überlegt kurz, ob das Bild der Gürtelschnalle als Fessel des Leibes nicht zu gewollt literarisch klingt, schlimmer noch: nach einem s