1. Kapitel
Grady hatte sie gewarnt. Immer wieder hatte er ihr gesagt, die Geisterstadt sei ein gefährlicher, verstörender Ort. Er hatte sie inständig gebeten, nicht danach zu suchen. Und all die Jahre hatte Savannah sich an seine Bitte gehalten. Doch je eindringlicher ihr Bruder ihr davon abgeraten hatte, desto sicherer hatte sie gewusst, dass sie die Stadt finden musste. Schon allein wegen der Rosen. Die waren ihre Leidenschaft – vor allem die alten, vor1867 gepflanzten Sorten, die man heutzutage hauptsächlich auf Friedhöfen und den Farmen der früheren Siedler fand.
Sechs Wochen lang war sie auf der Suche nach der Stadt durch das texanische Hügelland gestreift. Erst mit dem Pick-up, dann auf dem Pferd und schließlich war sie sogar zu Fuß und ohne Handyempfang in der Gegend umhergeirrt. Doch es war ihr gelungen – sie hatte die Geisterstadt gefunden. Bitter End. Was für ein seltsamer Name! Allerdings passte er zu der Stadt.
Wenn Grady von ihrem kleinen Abenteuertrip erfahren würde, würde er furchtbar wütend werden. So viel stand fest. In letzter Zeit lächelte er sowieso kaum noch. Immer schien er die Last der Welt auf seinen Schultern zu tragen. Doch diesmal würde er mit ihrer Entscheidung zurechtkommen müssen. Sie war nicht mehr das kleine Mädchen, das es nicht wagte, sich dem älteren Bruder zu widersetzen. Es würde sicher nicht das erste und auch nicht das letzte Mal sein, dass sie seine Warnungen in den Wind schlug. Sie konnte genauso stur sein wie er. Dieses Mal hatte es sich jedenfalls mehr als gelohnt.
Savannah warf einen Blick auf den Tacho und trat aufs Gaspedal. Wenn sie vor Grady zu Hause eintraf, würde er sich nicht ganz so sehr aufregen.
In letzter Zeit war er oft gereizt. Die sinkenden Rindfleischpreise und die Bewirtschaftung einer großen Ranch brachten viele Probleme mit sich. Das ging nicht spurlos an ihm vorbei. Dazu kam, dass sie wegen der Sache mit Richard nach wie vor Schulden hatten.
Savannah zwang sich, nicht an die grauenvollen Ereignisse zu denken, die nun sechs Jahre zurücklagen. Es war schlimm genug, dass sie ihre Eltern bei dem schrecklichen Unfall verloren hatten. Doch der Betrug ihres Bruders Richard würde ihnen bis an ihr Lebensende anhaften.
Grady hatte sich seitdem völlig verändert. Er hatte alles darangesetzt, die Yellow Rose Ranch zu retten, und dank harter Arbeit und seiner Hartnäckigkeit war es ihm gelungen. Doch es hatte ihn viel gekostet. Er hatte seine Jugend geopfert, um das Land behalten zu können, das sich seit Generationen im Besitz der Familie befand. Ihr Ururgroßvater hatte es kurz nach dem Bürgerkrieg besiedelt.
Savannah hatte ihrem Bruder angeboten, sich finanziell am Unterhalt der Ranch zu beteiligen. Sie hätte ihr Lehramtsstudium jederzeit wiedera