1. Kapitel
Noch vor einem Monat war das hier ihr Elternhaus gewesen.
Elaine Frasier stand auf dem von Bäumen gesäumten Fußweg in dem texanischen Ort Promise und blickte starr auf das zweistöckige Haus mit dem Palisadenzaun. Das »Verkauft«-Schild sagte ihr, dass nichts mehr so sein würde wie früher. Ihr Vater war tot und ihre Mutter weggezogen.
In diesem Haus war sie geboren worden und aufgewachsen. Unzählige Male war sie über den Rasen im Vorgarten gelaufen und auf den Hickorybaum geklettert, um sich kopfüber von einem Ast baumeln zu lassen. Und auf der Veranda hatte sie ihren ersten Kuss bekommen.
Unzählige Male hatte ihr Vater sie auf den Verandastufen fotografiert. Als Baby auf dem Arm ihrer Mutter am Tag der Entlassung aus dem Krankenhaus in Brewster. Jedes Jahr zu Ostern in einem neuen Kleid und zu Halloween in einem neuen Kostüm, das ihre Mutter für sie genäht hatte. Ihr Vater hatte darauf bestanden, sie auf diesen Stufen abzulichten, als man sie mit achtzehn zur Rodeoprinzessin gekürt hatte. Damals hatte er gesagt, er würde sie dort auch in ihrem Hochzeitskleid fotografieren.
Doch ihr Vater konnte sie nicht mehr zum Altar führen.
Die Trauer, die sie jetzt überwältigte, kannte sie mittlerweile gut. Schon seit Wochen verspürte sie diesen Schmerz, schon seit ihr Vater im Krankenhaus gelegen hatte. Sie hatte nicht wahrhaben wollen, dass er tatsächlich todkrank war – die Väter anderer Leute konnten sterben, aber doch nicht ihr eigener. Er hatte noch so jung und vital gewirkt, dass sie sich geweigert hatte, das Unausweichliche zu akzeptieren, und deshalb traf sein Tod sie umso mehr.
Ihrer Mutter zuliebe musste Elaine jedoch stark sein. Genau wie ihr Vater war sie sehr energisch, selbstständig und dickköpfig, ihre Mutter Pam hingegen ziemlich emotional und zerbrechlich. Da sie es nicht geschafft hatte, sich um die Beerdigung und alles, was damit zusammenhing, zu kümmern, hatte Elaine die ganze Organisation übernehmen müssen.
Eine Woche nach der Beerdigung kam der größte Schock für Elaine, als Pam urplötzlich verkündete, sie würde nach Chicago zu ihrer Schwester ziehen. Unverzüglich hatte sie das Haus zum Verkauf ausgeschrieben, und schon ein paar Tage später war ein Käufer gefunden – dann war sie weg gewesen, bevor Elaine realisiert hatte, wie ihr geschah. Alles, was Pam nicht mitgenommen hatte, hatte Elaine bekommen. Dazu gehörte auch das familieneigene Futtermittelgeschäft, mit dem Pam nichts zu tun haben wollte. John hatte immer gewollt, dass seine Tochter es irgendwann einmal übernahm.
Elaine straffte sich, denn es hatte keinen Sinn, das Unvermeidliche hinauszuzögern. Mit dem Schlüssel in der Hand ging sie zum letzten Mal die fünf hölzernen Stufen hoch. Einen Moment stand sie da, dann zwang sie