PROLOG
Unter einem Epos stellen wir uns meist eine Geschichte vor, die vor langer Zeit in einem fernen Lande spielt. Doch als ich vor einigen Jahren in die europäische Sagenwelt eintauchte, ging mir auf, wie aktuell diese Erzählungen sind. Sie berühren uns nicht weniger unmittelbar als die Tagesnachrichten, sie haben die erzählerische Wucht von Blockbuster-Filmen, und sie bieten die knisternde Spannung von Lagerfeuererzählungen.
Die Idee zu diesem Buch kam mir während einer Reise durch Europa. Meine Frau hatte Mutterschaftsurlaub, und ich redigierte ein Buch, es sprach also nichts dagegen, »uns ein paar Monate zu vergnügen«, wie sie es ausdrückte. Auch stand am Ende des Sommers die Einschulung unseres Ältesten bevor, und das hieß: jetzt oder nie. Und so kam es, dass wir vier Monate lang von einer Minikatastrophe zur nächsten kreuz und quer durch sieben Länder Europas zockelten, mal bei Freunden und Verwandten unterkrochen, mal günstig eine Bleibe über Airbnb organisierten. Auf Sardinien ruinierten wir auf einer Schotterstraße unsere Reifen und mussten das Auto in die Werkstatt bringen, und die Überfahrt mit der Fähre nach Sizilien verbrachten wir zum größten Teil auf der Krankenstation, weil ich vergessen hatte, unser Baby im Kinderstuhl anzuschnallen. Aber im Großen und Ganzen schlugen wir uns gar nicht so schlecht: Wir brachten die Kinder heil und ganz nach Hause, wir zerstritten uns nicht, und unser zehn Jahre alter Peugeot 206 gab nicht den Geist auf.
Es war also eine unbeschwerte, friedliche Zeit, und wir hatten viel Spaß dabei, Europa mit den Augen kleiner Kinder zu entdecken. In Nürnberg bestaunten wir mit glänzenden Augen Modelleisenbahnen in Europas schönstem Spielzeugmuseum und anschließend, ziemlich ernüchtert, das Aufmarschgelände für die Reichsparteitage der Nazis. In Syrakus besuchten wir ein Puppentheater, nachdem wir ein antikes Amphitheater erkundet hatten. Hie und da drangen auch die wachsenden Probleme des Kontinents bis in die Glücksblase unserer kleinen Familie – von rassistischen Graffiti in Hannover bis zu Migranten aus Afrika, die uns auf Sardinien um Hilfe baten. Doch schmutzige Windeln und aufgeschlagene Knie lenkten unsere Aufmerksamkeit schnell von solchen Dingen ab. Wenn uns die Nachrichtenmeldungen zu sehr aufs Gemüt schlugen, konnten wir uns einfach in die Abenteuer der Oktonauten versenken oder uns an der schönen Holzausstattung der deutschen Kindergärten freuen.
Ich lernte Europa in diesem Sommer lieben: das messingfarbene Licht auf den Stränden des Mittelmeers, wo das türkisfarbene Meer unsere Füße umschmeichelte; das staubige Goldgrün der Nadelwälder; die traditionellen Bräuche, die auf dem Kontinent noch gepflegt werden: angefangen bei den sizilianischensignoras, die die Füßchen unseres Babys und den blonden Schopf seines älteren Bruders berührten und sich dabei bekreuzigten, bis hin zu den Doktoranden in Göttingen, die nach bestandener Prüfung auf dem Marktplatz der Figur der Gänseliesel einen Kuss auf die bronzenen Lippen drücken. Großartiger Kaffee, köstliches Eis, und wo die Würste nicht ganz so gut waren, wurden sie wenigstens größer, genau wie die Bierkrüge.
Doch zu Hause in England beherrschte der Brexit die Schlagzeilen. Dort versuchte man, aus der nationalen Identität politisches Kapital zu schlagen; historische Begriffe wie »Angelsachse« und verstaubte Ansichten über »Souveränität« wurden für den Stimmenfang instrumentalisiert; Facebook-Profile wurden ausgespäht, und Politstrategen, die sich ihre Ideen aus Sun TzusDie Kunst des Krieges klaubten oder die uralten politischen Manöverspielchen eines Bismarck kopierten, produzierten provokative Videos auf YouTube.
Als wir in den bayerischen Alpen ankamen, war das Kind (keines der unseren, zum Glück) dann endgültig in den Brunnen gefallen: Eine Mehrheit der Briten stimmte dafür, nach 42 Jahren die politische Union mit dem Festland aufzukündigen. Wir hatten uns in eine Pferdekutsche gequetscht und klapperten Neuschwanstein entgegen. Ein netter Düsseldorfer, der mir seinen Ellbogen in die Rippen drückte, hielt mir mit dem mitfühlenden Kommentar »Da habt ihr euch ja was Schönes eingebrockt!« sein iPhone unter die Nase, um mich über den freien Fall des britischen Pfunds auf dem Laufenden zu halten. Das Schloss ist ein romantischer Fantasiebau, errichtet für einen Schöngeist des 19. J