Alicia und Nuri
Als der Lieferwagen anhielt, wusste sie, was kommen würde. Sie hatte das bei dem Mädchen erlebt, das unterwegs abgegeben wurde. Sie hatte Angst.
Durch das Heckfenster konnte sie Bäume sehen, sie war in einem Wald. Ihr zehnjähriger Bruder schlief auf dem harten Boden der Ladefläche, er war an Händen und Füssen gefesselt, mit zugeklebtem Mund, wie sie.
Sie, bald fünfzehn, aber jünger aussehend, sass im vorderen Teil der Ladefläche. Ihr war es egal, dass sie noch so jung aussah. Aber ihre Mutter sagte immer: ›Hab Geduld Alicia, bald bist du eine gut aussehende Frau‹. Im Moment hoffte sie sogar, dass ihr junges Aussehen sie für den Typen uninteressant machen würde.
Seit zwei Tagen fuhren sie mit zwei zwielichtigen Männern, die ihnen versprochen hatten, sie gegen Bezahlung nach Deutschland zu bringen. Das war ihr Wunschziel. Sie waren froh mitgenommen zu werden. Die türkische Polizei suchte sie, darum mussten sie so schnell wie möglich das Land verlassen. Am Anfang schien auch alles wunschgemäss zu verlaufen, doch plötzlich fesselten die Männer sie und ihren Bruder, beschlagnahmten ihr weniges Gepäck und das ganze Geld. Zur Sicherheit, wie die Typen betonten. Doch sie wusste in diesem Moment, sie würden ihr Ziel nie erreichen.
Die Wagentüren wurden geöffnet, die Männer stiegen aus. Sie hörte, wie sich beide erleichterten und dabei Witze rissen. Die Sprache, die sie sprachen, war ihr fremd.
Die seitliche Schiebetür wurde aufgestossen. Der eine Mann blickte hinein. Auf den ersten Blick wirkte er sehr seriös, gut gekämmt, mit kurzen braunen Haaren und einem sauberen Kinnbart. Aber sie wusste, was für ein schrecklicher Mensch er war.
»Come on!«, befahl er ihr in schlechtem Englisch. Sie versuchte aufzustehen, aber es gelang ihr erst, als er sie von den Fesseln befreite. Ihrem Bruder wurden die Fesseln ebenfalls abgenommen. Er weinte nicht mehr, es schien, als hätte er all seine Tränen aufgebraucht. Jetzt konnten auch sie sich vor dem Wagen erleichtern, aber der schreckliche Typ blieb vor ihr stehen und schaute mit unverhohlenem Interesse lüstern zu. Der andere bewachte diskret ihren Bruder. Durch den peinlichen Gaffer wurde das Pinkeln für sie sehr anstrengend, ihr Körper weigerte sich, das Wasser frei zu geben. Sie sagte nichts, versuchte sich abzulenken, stellte sich vor am Meer zu sein, die Wellen rauschen zu hören, so klappte es endlich.
»Back in the car!«, schrie der Schreckliche, als sie fertig waren.
Die Männer klebten ihre Hände und die ihres Bruders am Rücken wieder mit Klebeband zusammen und beide mussten zurück zum Lieferwagen. Ziemlich brutal warf der Schreckliche den Jungen in den Wagen, fesselte noch seine Füsse und grinste gemein. Mit dem Mädchen machte er das Gleiche, nur, dass er bei ihr im Wagen blieb.
Etwas abseits des Wagens wartete sein Kollege und rauchte.
Sie wusste, was er wollte, aber nur schon bei der Vorstellung, wurde ihr schlecht. Der Typ stellte sich vor ihr auf und liess die H