1.
SÜDLICHES SAUERLAND
– Jakob–
»Sind wir endlich soweit?«, drang von oben aus dem Fenster die messerscharfe Stimme des Internatsleiters Pater Dr. phil. Johannes Hartmann herab.
Sergey Michailow fuhr herum. Der Pater, ein schlanker, hochgewachsener Mann Mitte vierzig mit schütterem Haar und, wie man im Kollegium munkelte, ein Kandidat für ein hohes Amt im Vatikan, zeigte dem Hausmeister unmissverständlich an, dass er verschwinden solle, bevor wieder einmal die mysteriösen Besucher in ihren schwarzen Limousinen eintrafen. Sergey legte hastig seine Gartengeräte in die Schubkarre und sah noch prüfend über die nun makellos gereinigte Auffahrt zum Internat. Die mit Pappeln gesäumte Allee endete an einer zwanzigstufigen, breiten Treppe, auf der der Pater jetzt kein einziges Blatt sehen wollte. Sie führte zu der hohen, halbrunden Pforte mit zwei mächtigen Flügeltüren aus schwerem Holz, über denen in großen, goldenen Lettern schon von WeitemCollegium Maria Hilf zu lesen war.
Maria Hilf.
Sergey schauderte es jedes Mal, wenn er diese Inschrift las, die jetzt im Abendlicht so warm und einladend leuchtete. Anfangs war er stolz gewesen, Hausmeister an Deutschlands bester Internatsadresse sein zu dürfen und für einen Prachtbau hier im südlichen Sauerland zuständig zu sein, dessen Erbauer offensichtlich auf alles verzichtet hatte, was klein war. Sergey kannte jede Fläche und hielt sie sauber, als wäre das Gebäude seins. Inzwischen aber hasste er jede Ecke, besonders heute. Denn es war wieder das erste Wochenende im Monat, der Jour fixe, zu dem derDoktor, wie das Personal den Internatsleiter Pater Dr. phil. Johannes Hartmann unter der Hand nannte, seine ganz persönlichen Gäste geladen hatte. Nach jedem Jour fixe schwor Sergey sich aufs Neue, die Polizei zu informieren. Aber der Doktor hatte ihn in der Hand. Er umklammerte ihn wie mit einem eisernen Band, aus dem es kein Entrinnen mehr gab. Sergey schaute hasserfüllt zu dem Mann hinauf, der sein Leben zur Hölle gemacht hatte. Dabei hatte damals alles so gut begonnen.
Zwei Jahre zuvor war er als Russlanddeutscher nach Deutschland gekommen. Er hatte sich die kleine sauerländische Stadt Olpe ausgesucht, weil hier bereits einige andere Deutschrussen aus seiner Heimat wohnten. Über das Arbeitsamt wurde er dem Internat vermittelt. Der Internatsleiter, der sympathische Herr Doktor Hartmann, hatte ihm gesagt, dass er auf so einen wie ihn gewartet habe. Schon nach drei Monaten war die Probezeit bestanden. Sergey erinnerte sich, wie glücklich er gewesen war, obwohl das Gehalt trotz freier Kost und Logis gerade ausreichte, um über die Runden zu kommen und den Eltern im fernen Russland eine kleine monatliche Summe zu schicken. Sergeys großer Traum war es, ein Wochenendhäuschen in der Nähe der Bigge-Talsperre zu besitzen, mit einem kleinen Garten, in dem er Obstbäume und Gemüse anpflanzen wollte. Er würde seine kleine Datscha für eine Frau vorbereiten, von der er hoffte, sie bald hier in der russischen Gemeinde in Olpe zu finden.
Dann passierte es, was sich