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Aller guten Dinge sind drei, heißt es oft. Martine hatte da ihre eigene Ansicht. Es kam ganz darauf an, was man mitzählte und wie schwer es wog. So konnte sie zum Beispiel sagen, drei gute Dinge hatten sich zusammen mit einem schlechten ereignet, und dabei war das schlechte das allerschlimmste, was sich denken ließ. Oder ein anderes Ereignis war so unscheinbar, dass sie ihm in dem Moment gar keine Beachtung schenkte, und wiederum ein anderes, das sie als Pech einschätzte, erwies sich später als das größte Glück. Doch wie sie es auch durchrechnen mochte, eines war klar: Die Nacht, in der Martine Allen elf Jahre alt wurde, war die Nacht, in der sich ihr Leben restlos, vollständig und gänzlich veränderte und nie mehr werden sollte, wie es einmal war.
Es war Silvester. Martine lag schlafend im Bett und träumte von einem Ort, den sie noch nie gesehen hatte. Sie war sich dessen so sicher, weil dieser Ort zu schön war, als dass sie ihn je hätte vergessen können. Nach allen Seiten erstreckten sich Rasenflächen, gesäumt von Bäumen und exotischen Blumen. Dahinter ragte ein Berg mit erhabenen Granitfelsen in den stahlblauen Himmel. Kinder lachten und liefen hinter Schmetterlingen durch Beetemit rosafarbenen Blumen, und aus der Ferne drangen Trommeln und Gesang an ihr Ohr. Doch irgendetwas war ihr nicht ganz geheuer. Gänsehaut überzog ihren Körper.
Plötzlich begann der Himmel, in einem fiebrigen, violetten Licht zu brodeln, und ein stahlgraues Wolkenband wälzte sich wie eine dicke Tischdecke über die Flanke des Berges hinab. Innerhalb weniger Sekunden wurde der sonnige Tag zur düsteren Nacht. Dann rief eines der Kinder: «Schaut mal, was ich gefunden habe.»
Es war eine Wildgans mit einem gebrochenem Flügel. Doch statt ihr zu helfen, begannen einige der Kinder, die Gans zu quälen. Martine, die den Anblick einer leidenden Kreatur nicht ertragen konnte, versuchte, sie davon abzuhalten, doch in ihrem Traum wandten sich die Kinder gegen sie. Als Nächstes lag sie weinend am Boden, das verletzte Tier in ihren Armen.
Dann geschah etwas ganz Seltsames. Ihre Hände, die die Wildgans umschlossen hielten, wurden erst warm, dann heiß, bis sie beinahe glühten und ein elektrischer Strom knisternd durch Martines Körper schoss. Durch Rauchschwaden sah sie schwarze Männer mit gehörnten Antilopenmasken und Feuer schnaubende Nashörner, dazwischen ertönten Stimmen aus den Urtiefen der Zeit. Sie wusste, dass sie zu ihr sprechen wollten, doch sie konnte sie nicht verstehen. Plötzlich rührte sich der Vogel. Martine öffnete ihre Arme, die Gans flatterte mit den Flügeln und flog in den violetten Himmel davon.
In ihrem Traum blickte sie lächelnd auf, doch die anderen Kinder lächelten nicht zurück. Sie starrten sie mit einer Mischung aus Schrecken und Fassungslosigkeit an. «Hexe!», riefen sie ihr entgegen, «Hexe! Hexe! Hexe!», kreischten sie und kamen auf sie zu. Schluchzend flüchtete Martine bergauf in einen dunklen Wald hinein. Doch ihre Beine waren schwer wie Blei, Dornen bohrten sich in ihre Knöchel, und schon bald hatte sie sich im Nebel verlaufen. Und die ganze Zeit wurde es ihr wärmer und wärmer. Dann griff eine Hand nach ihr, und si