1. KAPITEL
Desi wünschte, sie hätte eine Taschenlampe, als sie im Dunkeln um das alte Haus schlich. Ein Dorn eines ebenso alten und knorrigen Busches drang durch ihr T-Shirt und bohrte sich ihr in die Haut.
„Autsch!“ Sofort bereute sie den Aufschrei, denn es war fast Mitternacht.Was hat Gerda gesagt, wo der bemalte Stein liegt?
Ihre Großmutter, der Desi in ihren 28 Lebensjahren nur selten begegnet war, hatte ihr vorhin am Telefon beschrieben, wo der Zweitschlüssel zu ihrem Haus versteckt war. Entschlossen, Grandma Gerda nicht zu wecken, stapfte Desi durch das hohe Gras.
Da war er! Der gesuchte Stein lag am Pfosten der Holztür und leuchtete im hellen Mondschein wie Neonfarbe bei Schwarzlicht. Vorsichtig tastete Desi darunter nach der kleinen Schachtel, die den Hausschlüssel enthielt. Kaum hatte sie ihn herausgenommen, stieg ihr der Jasminduft aus dem Garten in die Nase, und sie musste niesen. Sie ließ den Schlüssel fallen und suchte auf Händen und Knien danach.
Wirklich ein Glück, dass der Mond schien. Sekunden später eilte sie mit dem Schlüssel zur Veranda. Sie stolperte über einen lockeren Pflasterstein und verlor fast das Gleichgewicht. Als sie sich wieder aufrichtete, blendete sie ein heller Lichtstrahl.
„Wer ist da?“, fragte eine tiefe Stimme.
Sie hielt sich die Arme vor die Augen. „Ich bin Mrs. Rasks Enkeltochter. Wer sind Sie?“
Der Lichtstrahl senkte sich, und Desi sah einen hünenhaften Umriss. Hätte sie doch bloß mit dem Kickboxen weitergemacht …
„Ich bin Kent, Gerdas Nachbar.“ Der Mann musterte sie misstrauisch. „Sie hat mir nie etwas von einer Enkelin erzählt.“
Natürlich nicht. Niemand sollte etwas von ihr wissen. Schon gar nicht in einer skandinavischen Hochburg wie Heartlandia am Columbia River in Oregon, wo Menschen wie sie sofort als Exoten auffielen.
„Soll das heißen, Sie sind Esters Tochter?“
Offenbar wusste er, wer ihre Mutter war … oder gewesen war. „Ja. Könnten Sie bitte die Taschenlampe ausschalten und leiser sprechen? Ich will meine Großmutter nicht wecken. Ich hatte keine Ahnung, dass die Fahrt von Portland nach Heartlandia so lange dauern würde.“ Sie hatte spontan einen Umweg durch die Großstadt gemacht. Vielleicht lebte ihr Vater noch dort. Um sich kein Motel leisten zu müssen, war sie durchgefahren. „Ich habe zweieinhalb Stunden gebraucht. Was hat Oregon eigentlich gegen Straßenbeleuchtung?“, flüsterte sie. „Auf dem Highway 30 wimmelt es von schwarzen Löchern.“
Sie zupfte sich die Blätter aus dem Haar und wischte Staub von ihren Händen, bevor sie ihm eine entgegenstreckte. „Übrigens, ich heiße Desi Rask.“
Erst jetzt registrierte sie, wie groß der Mann war. Mit eins fünfundsiebzig musste sie nicht oft zu jemandem aufsehen. Er war mindestens eins neunzig. Und blond. Wie ein nordischer Gott. „Kent Larson.“ Er schüttelte ihre Hand, die sich in seiner geradezu winzig anfühlte. „Ihre Mutter hat auf mich aufgepasst, bevor …“
Bevor sie von zu Hause weggelaufen ist. Desi kannte die Geschichte. Ihre Mutter, die Pianobar-Königin des Mittleren Westens, hatte es ihr erzählt, bevor sie gestorben war.
„Desdemona? Bist du das?“, rief eine dünne Stimme. „Kent?“
Desi unterdrückte ein Seufzen. „Ja, ich bin es. Dein Empfangskomitee von nebenan muss