Die Zwölf Propheten
Etwas stimmt nicht mit der Welt. Das hat auch der Himmel bemerkt und besondere Gestalten damit betraut, die Menschen wachzurufen: Propheten. Sie reißen Wunden auf, halten den Spiegel vor, wischen Tränen ab und verbreiten Hoffnung. Sie richten und rütteln, schreien und flüstern, fluchen und segnen. Darin sind sie echt und ehrlich wie das Leben. Ob sie sogar über die Jahrhunderte hinweg in unsere Zeit schreien? Das will ich wissen.
Sie präsentieren kritische Reden für das jeweilige Heute, aber nicht nur das. Mit ihnen passiert noch mehr, denn in ihren Worten hören Menschen seit Hunderten von Jahren die Stimmen Gottes rufen. Sie bekommen seit einer gefühlten Ewigkeit zu spüren, was es bedeutet, „wenn Gott reklamiert“.
Was da reklamiert wird, werden wir in den nächsten zwölf Kapiteln mit den zwölf „kleinen“ Propheten erleben. So viel sei schon verraten: Wenn Gott reklamiert, dann ist das Leben in all seinen Facetten betroffen, dann werden die Selbstverständlichkeiten unserer Welt tief ins Mark getroffen. Denn sonst wäre es nicht Gott, der da reklamiert.
In diesem fortlaufenden Schlüsselwörtchen steckt übrigens ein dreifaches Sprachspiel: Eine Sache zu reklamieren bedeutet ja erstens, sie aufgrund von Mängeln oder Nicht-Gefallen zurückgeben zu wollen. Das scheint bei den Propheten auf fast jeder Seite durch. Es hört sich gelegentlich so an, als wollte Gott eine nicht ganz funktionstüchtige Menschheit zurückgeben. Zweitens bedeutet eine „Reklamation“, einen Anspruch geltend zu machen, etwas für sich zu reklamieren. Auch das klingt in den Worten an, denn unsere Gottheit beansprucht die Menschheit für sich, obwohl etwas mit ihr so gar nicht stimmt. Drittens steckt im Wort die „Reklame“. So habe ich die Propheten durchweg erlebt: als Werbetexter. Sie bewerben eine zutiefst menschliche Welt, sie werben für ein göttliches Leben. Und so wirbt das Göttliche letztlich für sich selbst. Gott reklamiert.
Nur kurz, aber nicht klein
Verschaffen wir uns zunächst einen Überblick über die Texte, die uns von nun an begleiten werden. Nebenbei sei natürlich empfohlen, diese zwölf kurzen Bibelbücher aus dem Ersten Testament parallel zu lesen. Im besten Fall macht dieses Buch sogar neugierig darauf, das zu tun.
Den Propheten ist in der dreiteiligen Hebräischen Bibel neben der „Tora“ (den fünf Mosebüchern) und den „Ketuvim“ (Schriften) ein eigener Teil gewidmet, die sogenannten „Nevi’im“. Aus den Anfangsbuchstaben der drei Begriffe ergibt sich der Name „Tanach“ für die Hebräische Bibel. Zu den Prophetenbüchern gehören neben den klassischen „hinteren“ Propheten übrigens auch als „vordere“ Propheten die Bücher Josua, Richter, Samuel und Könige. In der christlichen Bibel werden sie als Geschichtsbücher gehandelt. Gemeinsam folgen sie auf die Tora, die von Mose als dem größten aller Propheten erzählt (5. Mose 34,10).
Uns interessiert innerhalb der Nevi’im das Zwölfprophetenbuch. Es heißt so, weil die enthaltenen Propheten der jüdischen Tradition als ein einziges Buch in zwölf Teilen gelten. Die Geschichte seiner Entstehung ist kompliziert und langwierig, sie reicht wohl vom achten Jahrhundert vor der Zeitenwende bis in die sogenannte hellenistische Zeit zum Ende des vierten Jahrhunderts vor unserer Zeit. Ein wenig genauer schauen wir uns das zu gegebener Zeit an. Übrigens: Wenn nichts anderes angegeben ist, beziehen sich alle Datierungen im Buch auf die Jahre vor unserer Zeitenwende.
Bekannter als die Bezeichnung „Zwölfprophetenbuch“ ist der Name „Kleine Propheten“. Das