PROLOG
Alice griff nach dem Bleistift und warf noch ein paar Striche auf den Zeichenblock. Irgendwie ähnelte ihr David mehr demUnglaublichen Hulk als Michelangelos Meisterwerk.
Da die berühmte Piazza della Signoria nur am frühen Morgen nicht von Touristenmassen überschwemmt wurde, war Alice beim ersten Tageslicht aufgestanden. Kein Wunder, dass Florenz ein so beliebtes Reiseziel war, schließlich war es der Traum aller Kunstliebhaber. Überall gab es beeindruckende Architektur, Statuen und andere Kunstwerke zu bestaunen. Erst gestern hatte sie Michelangelos David im Original in der Galleria dell’Accademia gesehen, fasziniert von so viel männlicher Schönheit. Und nun saß sie hier auf der Piazza und versuchte, die Kopie zu zeichnen.
Es war zwar erst acht Uhr, aber schon jetzt füllte sich der Platz mit Busladungen von Urlaubern. Sie beschloss, nur noch eine Stunde zu bleiben.
Alice seufzte wohlig, als die warmen Sonnenstrahlen ihr Gesicht streichelten. Soweit sie sich erinnern konnte, hatte sie sich noch nie so wohlgefühlt. Hier in Florenz kannte sie niemand, es interessierte keinen Menschen, wer sie war, und das war wundervoll. Keine Paparazzi, die ihr auflauerten und deren Fotos am nächsten Morgen die ersten Seiten der Klatschpresse zierten. Keine Galadinners, keine Bälle oder andere Anlässe, die ihre Anwesenheit erforderten. In diesen, wenn auch allzu kurzen drei Wochen war sie einfach nur Alice Granville.
Sie hielt den Block etwas von sich ab und betrachtete ihr Werk kritisch. Ihre zeichnerischen Fähigkeiten waren eher mäßig, und sie würde nie eine große Künstlerin werden, aber sie hatte sich in der Villa gelangweilt und wollte einige von den wunderbaren Dingen, die sie gesehen hatte, irgendwie festhalten.
Nach ihrer Zeichenstunde hatte sie vor, sich wie jeden Morgen in einem der Cafés einen Kaffee und etwas Süßes zu gönnen. Leider aß sie für ihr Leben gern und konnte an keinerpasticceria vorbeigehen, ohne nicht zumindest verlangend auf die köstlichen Kuchen zu blicken. Und hier in Florenz gab es an fast jeder Straßenecke eine kleine Konditorei mit neuen, unbekanntendolci, die sie unbedingt probieren musste.
Allerdings schien nur ein einziger Blick darauf zu genügen, und schon hatte sie das Gefühl, dass ihre Hüften anschwollen. Nicht dass sie übergewichtig war, aber etwas weniger üppige Rundungen wünschte sie sich schon.
Sie wollte gerade ihre Sachen einpacken, da fiel ihr Blick auf den Mann, der gegenüber auf einer Bank saß.
Er trug eine eng anliegende ausgeblichene Jeans und ein weißes T-Shirt, das sich um einen muskulösen Brustkorb schmiegte. Den Kopf zurückgelegt, die Augen geschlossen, genoss der Mann sichtlich die warmen Sonnenstrahlen. Als er sich gleich darauf das T-Shirt auszog, spielten die kräftigen Armmuskeln unter der olivfarbenen Haut. Alice atmete tief durch. Er war perfekt, wie Michelangelos David. Sein athletischer Oberkörper war von der Sonne gebräunt, und feine dunkle Härchen zogen sich hinunter bis zum Knopf seiner Jeans.
Spontan begann Alice, sein Gesicht zu zeichnen. Er hatte dunkle, fast schwarze Haare, eine schmale, klassisch römische Nase und ein energisches Kinn.
Ihr Blick heftete sich auf seinen Mund. Volle Lippen, die Mundwinkel leicht nach oben gezogen, verrieten, dass er oft und gern lachte. Als hätte er ihre Gedanken gelesen, lächelte er, reckte sich und schlug die Augen auf … Augen, die Alice an dunklen Bernstein erinnerten. Seine Zähne waren ebenmäßig und strahlend weiß. Zweifello