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Kaddisch im Februar
Inzwischen ist es Februar. Draußen war es die letzten Tage kalt und ungemütlich. Heute Morgen wecken mich die Sonnenstrahlen. Der Blick nach draußen in unseren Garten ist aber eher deprimierend. Karge Äste. Schlammiger Boden. Vertrocknete Pflanzen vom letzten Jahr. Eine kahle Stelle da, wo vor einigen Monaten noch unser Hasenstall stand. Dreckige Gummistiefel auf der Terrasse und ein modriger Geruch in der Luft. Nein. Heute hebt die Sonne meine Stimmung nicht. Ihr Licht zeigt einfach, warum der Februar besser trübe und verregnet sein sollte. Diese Armseligkeit muss man nicht beleuchten. Seufzend schenke ich mir die erste Tasse Kaffee ein und halte mich ein wenig an dem warmen Keramikbecher fest. Und wie so oft in diesen Tagen wandern meine Gedanken zu den Ereignissen vor einem Jahr. Was im Februar als schmerzhafte, aber eigentlich harmlose Rückenverletzung bei meiner Mutter begonnen hatte, wurde innerhalb weniger Wochen zu ihrem Todeskampf. Morphium, Verwirrtheit mit kurzen, klaren Momenten auf ihrer Seite. Endlose Autofahrten, Arztgespräche, Erschöpfung, alles geben und doch so viel schuldig bleiben auf meiner Seite. In den Tagen vor ihrem Tod war meine Mutter von einer großen Zuversicht erfüllt. Aber die letzten Stunden waren schwer. »Manchmal bringt Gott seine Kinder im Dunkel ins Bett«11, sagte der Schweizer Theologe und Schriftsteller Samuel Keller. Genauso fühlte sich der Abschied an. Mir blieb nur noch, sie im Arm zu halten – die Mutter, diemich so viel gehalten hatte – und über ihre letzten mühsamen Atemzüge auf dieser Erde zu wachen. Ich vergrub meinen Kopf in ihrem Schoß, der Ort aus dem ich geboren wurde, und spürte, wie der vertraute Körper langsam kalt wurde. Lange saß ich neben ihr und hielt ihre schwieligen Hände. Hände, die so viel gearbeitet hatten, die unzählige Male Essen auf den Tisch gestellt, Pflaster auf Knie geklebt und Tränen abgetrocknet hatten. Hände, die in meiner Kindheit allabendlich segnend auf meinem Kopf gelegen und sich bis zum Schluss treu zum Gebet gefaltet hatten, für mich und viele andere Menschen. Wir begruben ihren Körper neben dem Körper meines Vaters. Asche zu Asche, Staub zu Staub. So endet das Leben. Wir sprachen davon, dass meine Mutter nun bei ihrem geliebten Heiland ist, dass sie nun sehen darf, was sie geglaubt hat. Aber in mich war eine Kälte gekrochen. Und was, wenn nun alles nicht stimmt? Wenn der Tod einfach das Ende und Aus ist? Es war nicht das erste Mal, dass ich einen geliebten Menschen verlor. Und es war auch nicht das erste Mal, dass mich Zweifel überfielen. Zweifel tauchen in meinem Glaubensleben so regelmäßig auf wie lästige Tauben neben der Parkbank. Ich versuche sie einfach nicht zu füttern. Aber dieses Mal war es anders. Ich konnte sie nicht mal eben verscheuchen. Diese Begegnung mit dem Tod hat meinen Glauben tiefer erschüttert als alles zuvor. Vielleicht ist das so, wenn die Mutter stirbt.
Zuerst habe ich kaum gewagt, darüber zu sprechen. Als würde alleine durch das Aussprechen meiner Zweifel noch mehr Hoffnung wegbrechen. Irgendwann saß ich dann doch bei meiner Seelsorgerin. S