1. KAPITEL
Der Flug hatte Verspätung gehabt. Bis wir auf Las Veridas sind, ist es dunkel, überlegte Nicole, während sie sich auf der Fahrt in Richtung der Berge an der Küste entspannt auf dem Ledersitz der Limousine zurücklehnte.
„Ich freue mich so darauf, Luis zu sehen“, sagte sie. „Allerdings hatte ich nicht damit gerechnet, dass so etwas passiert.“
„Zuerst war es ein Schock für uns beide“, bestätigte Eduardo. „Aber im positiven Sinne! Ich hätte nie damit gerechnet, in meinem Alter noch einmal ein eigenes Kind in den Armen zu halten!“
„Und ich hatte überhaupt nicht damit gerechnet“, erklärte seine Frau. „Mit fünfunddreißig das erste Kind zu bekommen ist wirklich kein Spaziergang. Ich kämpfe immer noch mit meinem Gewicht.“
„Du bist sogar noch schöner als an dem Tag, an dem wir uns zum ersten Mal begegnet sind“, versicherte er galant.
Auch wenn es bei Leonora zuerst keine Liebe war, so ist es jetzt der Fall, überlegte Nicole, als sie den Blick bemerkte, den die beiden tauschten. Noch vor einem Jahr hätte sie gesagt, dass die Chancen gering waren, doch damals war ihre Stiefmutter auch ein ganz anderer Mensch gewesen.
Vor einem Jahr war ich auch ein anderer Mensch, sagte Nicole sich ironisch. Nicht, dass Marcos irgendwelche Zugeständnisse machen würde. Es würde nicht leicht sein, ihm wieder gegenüberzutreten, doch sie hatte keine andere Wahl, denn sie wollte bei der Taufe unbedingt dabei sein.
„Wer kümmert sich jetzt um Luis?“, erkundigte sie sich.
„Wir haben ein hervorragendes Kindermädchen“, erwiderte Leonora. „Sie ist ganz vernarrt in ihn. Ihr Name ist Juanita. Natürlich ist sie Venezolanerin, aber sie spricht sehr gut Englisch, sodass Luis hoffentlich zweisprachig aufwachsen wird. Ich bin gespannt, in welcher Sprache er sein erstes Wort sagt.“
„‚Mamá‘ und ‚Papá‘ ist in beiden Sprachen dasselbe“, meinte Eduardo, während er einen Lastwagen überholte.
Nicole fragte sich, wie Marcos wohl auf die Nachricht reagiert hatte, dass er jetzt einen kleinen Bruder hatte. Sicher war er nicht allzu erfreut gewesen. Ein Altersunterschied von vierunddreißig Jahren zwischen Geschwistern machte es unwahrscheinlich, dass sich ein enges Verhältnis zwischen ihnen entwickelte.
Für ihn war es schon schwer genug gewesen, sich mit der Heirat abzufinden. Er hatte allen Grund zu der Annahme gehabt, dass Leonora das Ganze eingefädelt hatte. Und er war damals nicht der Einzige, gestand Nicole sich ein. Doch die Ehe der beiden war offenbar glücklich. Und nur das zählte.
Tatsächlich war es dunkel, als sie von der Autobahn abbogen. Seine Fahrweise bewies, dass Eduardo mit den Straßenverhältnissen in den Bergen vertraut war. Nachdem sie den Pass hinter sich gelassen hatten, kamen sie in das weite, baumbestandene Tal, das zum Anwesen Las Veridas gehörte. Das Dorf war an den funkelnden Lichtern zu erkennen, und weiter hinten, am bewaldeten Hang, lag die hell erleuchtetecasa.
Vom Dorf war es etwa noch eine halbe Meile, bis sie das große schmiedeeiserne Tor durchquerten. Nicole stieg aus und blieb einen Moment stehen, um den Familiensitz der Perazas zu betrachten. Soweit sie sehen konnte, hatte sich nichts verändert. Allerdings war ein Jahr nichts, wenn man bedachte, dass das Gebäude sich im Besitz mehrerer Generationen befunden hatte.
Den Mann, der aus dem Haus kam, um ihren Koffer zu holen, kannte sie nicht. Doch sie war beim ersten Mal auch nicht lange genug hier gewesen, um alle Angestellten kennenzulernen. Nur eine Woche. Innerhalb dieser kurzen Zeit hatte sich ihr Leben von Grund auf verändert. Aber es hat keinen Sinn, darüber nachzudenken, entschied Nicole. Was vorbei war, war vorbei. Hoffentlich sah Marcos es auch so.
Die große Eingangshalle mit dem dunklen, polierten Holzfußboden, auf dem ein exquisiter Perserteppich lag, war so beeindruckend wie damals. An den Wänden hingen zahlreiche Gemälde, die meisten davon Familienporträts. Die Holztreppe mit dem geschnitzten Geländer passte zu den schweren Türen.
Die große, sehr schlanke Frau, die ganz in Schwarz gekleidet war, hatte damals noch nicht hier gearbeitet. Offenbar ist sie die Haushälterin, die Leonora eingestellt hat, dachte Nicole, während sie ihrem undurchdringlichen Blick begegnete.
„Das ist Inéz“, bestätigte ihre Stiefmutter ihre Vermutung. „Sie hat die Verantwortung für alle Hausangestellten. Wenn du etwas brauchst, kannst du es ihr sagen.“
„Buenas noches, Inéz“, sagte Nicole und erntete dafür lediglich ein kurzes Nicken.
„Señorita.“
„Du hast wieder dasselbe Zimmer“, erklärte Leonora. „Bestimmt möchtest du erst mal nach oben gehen und dich frisch machen.“
„Wenn es geht, würde ich gern erst Luis sehen“, meinte Nicole spontan. „Ist er zu dieser Zeit wach?“
„Er ist eigentlich immer wach“, antwortete Leonora amüsiert. „Noch ein Grund dafür, ihn Juanitas Obhut