Archibalds Vermächtnis
Endlich«, seufzte Emily und ließ sich auf Onkel Archibalds abgenutzten Ledersessel in der geheimen Bücherkammer fallen. Der Raum war durch eine versteckte Falltür in Ottos Zimmer zugänglich und Otto vermutete, dass sein verstorbener Onkel die Kammer eingerichtet hatte. Otto und Emily kamen oft hier herunter, wenn sie ungestört mit den Geistern reden wollten. Oder einfach nur so. Der Raum hatte etwas Beruhigendes.
Müde strich Emily sich eine zottelige Haarsträhne hinters Ohr. »Ich dachte schon, der Schultag geht nie zu Ende. Die Lehrer haben doch alle einen Knall.«
Da musste Otto seiner besten Freundin zustimmen. Sämtliche Lehrer der Sigmund-Schwefelkopf-Schule hatten sich heute äußerst seltsam benommen. Mr Schreiber, der Deutschlehrer, zum Beispiel war heute Morgen mit tiefen dunklen Augenringen ins Klassenzimmer geschlurft, hatte verkündet, dass er schon seit Tagen nachts kein Auge mehr zubekommen habe und deswegen keinen Unterricht halten könne. Stattdessen hatte er die Klasse ganze fünfzig Seiten aus dem Deutschbuch alleine durchkauen lassen. Otto hatte nicht mal die Hälfte davon kapiert.
In Mathematik war es sogar noch schlimmer geworden. Der Mathelehrer, Mr Pickles, war normalerweise die Ruhe in Person, doch heute wirkte er fahrig und unkonzentriert. Bei einer einzigen Gleichung hatte er sich an der Tafel vier Mal verrechnet. Das war ganz und gar untypisch für ihn.
»Zu meiner Zeit gab es in der Schule auch nichts zu lachen«, pflichtete Sir Tony Emily bei, obwohl sie ihn weder sehen noch hören konnte. »Der Unterricht war zermürbend. Wir mussten stundenlang strammstehen und die Strafen waren drakonisch.«
»Oh ja«, ertönte eine glockenhelle Stimme im Eck. Sie gehörte Molly, dem einzigen weiblichen Hausgeist in Tante Sharons Villa. Sie hockte auf dem riesigen alten Globus und drehte sich im Kreis. »Und diese Umgangsformen hast du dir offenbar gut gemerkt und auf dein Hauspersonal übertragen, nicht wahr?«
»Pfff!«, machte Sir Tony. Molly und ihr bester Kumpel Bert hatten zu Lebzeiten in der Küche der Villa gearbeitet und Sir Tony, dem ehemaligen Hausherren, immer noch nicht ganz verziehen, dass er sie damals nicht besonders nett behandelt hatte.
Otto seufzte und setzte sich auf die Armlehne des Sessels. »Drakonische Strafen, na toll. Ich bin heilfroh, dass es die heute nicht mehr gibt. Wenn man durch eine plappernde Fledermaus im Schulranzen ständig unangenehm auffällt, weiß man nette Lehrer zu schätzen.« Er zwinkerte Emily zu.
Sir Tony rümpfte die Nase. »Den Unterricht zu meiner Zeit kann man doch mit dem heutigen gar nicht mehr vergleichen. Wir haben damals immerhin noch Manieren gelernt.«
»Ach wirklich?« Molly grinste.
»Sehr wohl.« Sir Tony überhörte den sarkastischen Unterton und hob sein Doppelkinn. »Heute geht es bloß noch um dieses Internet. Computer hier, Computer da. Ihr Schüler lernt doch heutzutage nur noch Unfug«, maulte er. »Habt ihr überhaupt noch Fächer wie Erdkunde? Ihr Kinder wisst wahrscheinlich nicht mal mehr, wo Großbritannien liegt.«
»Gar nicht wahr!«, widersprach Otto.
Sir Tony zog die Augenbrauen hoch, dann schwebte er hinüber zu dem Globus, auf dem Molly saß. »Mach mal Platz, Molly«, brummte er und drehte schwungvoll die Erdkugel.
Molly verlor das Gleichgewicht und purzelte herunter. »Was fällt dir eigentlich ein?«
»Ja, ja, entschuldige«, murmelte Tony lapidar und wedelte mit der Hand. »Also, was ist nun, Otto? Hast du in Erdkunde aufgepasst?«
Das konnte Otto nicht auf sich sitzen lassen. »Natürlich.« Triumphierend drückte er seinen Finger auf die Stelle, wo sich Großbritannien befand. »Das ist ja wohl das Allereinfachste überhaupt! Sogar Stan könnte …