Grundlagen musikhistorischen Arbeitens
Die Historische Musikwissenschaft ist unter den drei musikwissenschaftlichen Teilgebieten nach wie vor das verbreitetste. Etwa80 Prozent der Lehrstühle im deutschsprachigen Raum sind historisch ausgerichtet, und auch in den meisten Studiengängen liegt zumindest ein Schwerpunkt auf der Musikgeschichte. Dieses Buch konzentriert sich daher wie schon sein Vorgänger in Aufbau und Zielsetzung auf die Historische Musikwissenschaft und damit insbesondere auf die Fragen, wie Musikhistoriker arbeiten, für welche Gegenstände und Fragestellungen sie sich interessieren und auf welche Hilfsmittel und Methoden sie dabei zurückgreifen.
Die zentrale Arbeitsgrundlage für den Musikhistoriker ist das, was in den Geschichtswissenschaften alsQuelle bezeichnet wird. Wer versucht, Erkenntnisse über die Vergangenheit zu gewinnen, ist darauf angewiesen, dass Zeugen oder Zeugnisse existieren, die Auskunft über Ereignisse vergangener Zeiten geben. Nur in wenigen Fällen, etwa im Bereich der zeitgenössischen Musik, wird man auf lebende Personen treffen, die als Zeitzeugen bei der Beantwortung von Fragen behilflich sein können. Meistens ist man dagegen mit schriftlichen oder gegenständlichen Zeugnissen konfrontiert. Solche Quellen im engeren Sinne, bisweilen auch als Primärquellen bezeichnet, geben als zeitgenössische Dokumente oder Objekte Auskunft über bestimmte Sachverhalte. Musikalische Werke, Musikaufnahmen oder Texte aller Art, aber auch Instrumente, Bilder oder gar musikgeschichtlich bedeutende Gebäude können als musikhistorische Quellen ausgewertet werden.
Die historische Auswertung selbst vollzieht sich inwissenschaftlicher Fachliteratur, die in Abgrenzung zur Primärquelle manchmal auch Sekundärquelle oder Sekundärliteratur genannt wird und die nun ihrerseits den in einer|23| oder verschiedenen Quellen vermittelten Sachverhalt analysiert oder reflektiert. Ein Brief von Wolfgang Amadeus Mozart, in dem er über den Abschluss einer Komposition berichtet, wäre insofern eine historische Quelle, eine Mozart-Biografie, die den Brief als Nachweis für die Datierung dieser Komposition verwendet, Fach- oder Sekundärliteratur.
Wichtig für die musikhistorische Arbeit sind nicht nur die Quellen selbst, sondern auch diejenige Fachliteratur, die zu einem Gegenstand bereits existiert. Wissenschaftliches Arbeiten zeichnet sich unter anderem dadurch aus, nicht nur Altbekanntes zu referieren, sondern immer auch neue und eigene Erkenntnisse in die Diskussion einzubringen. Wer nach einer Lektüre des erwähnten Mozart-Briefs die Datierung der fraglichen Komposition als Ergebnis präsentiert, dabei jedoch nicht wahrnimmt, dass in der einschlägigen wissenschaftlichen Literatur zum Thema die Datierung bereits allgemein bekannt ist, leistet keinen Beitrag zum wissenschaftlichen Fortschritt, sondern blamiert sich im schlimmsten Fall vor den Fachleuten. Wer dagegen ausschließlich die Mozart-Biografie liest, nicht aber die Quellen, auf denen sie beruht, dem entgehen vielleicht Aspekte oder sogar Fehler, die dem Autor der Biografie nicht aufgefallen waren. Musikhistorisches Arbeiten vollzieht sich daher immer in einerwechselseitigen Befragung von wissenschaftlicher Literatur und Quellen.
Nicht immer ist jedoch eine klare Trennung von Quellen und wissenschaftlicher Literatur möglich. Fast jeder wissenschaftliche Text kann auch zur Quelle werden und zwar abhängig vom Gegenstand der Untersuchung. Ist das Thema einer wissenschaftlichen Arbeit etwa die historische Entwicklung der Mozart-Biografik, so verwandelt sich die Mozart-Biografie, die im Blick auf die Datierung einer Komposition eben noch als Fachliteratur bezeichnet wurde, in eine Quelle, da sie nun ihrerseits zum Gegenstand einer wissenschaftlichen Studie wird. So schwierig eine formale Abgrenzung zwischen Quellen und wissenschaftlicher Literatur aus diesem Grund auch ist, möchten wir sie dennoch in diesem Buch beibehalten, zumal sie gerade zu Beginn des Studiums dabei hilft, die Orientierung nicht zu verlieren.
Wie aber gehen Musikhistoriker konkret bei der wissenschaftlichen Arbeit vor? Stark vereinfacht lässt sich ihre Tätigkeit infünf Teilschritte zerlegen, die sich nicht unbedingt chronologisch aneinanderreihen, sondern in vielfältiger Weise überschneiden können.
|24| Themengebiet und Fragestellung definieren
Wie jede akademische Disziplin stützt sich