Angesichts der Häufigkeit der Borderline-Störung in Behandlungseinrichtungen erscheint das Wissen über die aktuellen Diagnosekriterien in der Praxis vergleichsweise inhomogen ausgeprägt. Häufig wird noch von „Spaltung“ oder „Agieren“ gesprochen. Das mag daran liegen, dass das Verständnis der Störung vergleichsweise neu ist, Veränderungen der Konzeptualisierung bzw. phänomenologisch-psychopathologischen Systematik noch in den letzten Dekaden auftraten. Auffällig bei allen Beschreibungen der Symptomatik von jeher ist, dass es sich um sehr heterogene Symptome auf vielen verschiedenen Ebenen handelt, die – einzeln betrachtet – zu verschiedenen psychopathologischen Störungsbereichen zu gehören scheinen. So wurden in allen Klassifikationsansätzen psychotische Symptome wie Halluzinationen und Wahnideen, affektive Symptome wie dysphorischer Affekt und Depressivität, Störungen der Willens- und Steuerungsfähigkeit wie Impulsivität und Kontrollverlust, Störungen im sozialen Bereich wie Streit, Anpassungsstörungen und Chaos, qualitative Bewusstseinsstörungen wie Dissoziationen oder schwere Identitätsstörungen sowie Suizidalität genannt (Kernberg, 1967;Gunderson& Singer, 1975;Rohde-Dachser, 1979;Linehan, 1987;Bohus, 2019). Im Folgenden werden die aktuellen Kriterien zur Diagnose und die wesentlichsten Instrumente zur Erfassung der Störung sowie eine Ableitung der Symptomatik aus einem neurobiologisch-psychologischen Kontext, der das Verständnis der BPS nach unserer Erfahrung außerordentlich erleichtert, dargestellt.
Im DSM-5 erfolgt die Klassifikation in zwei Schritten: Zunächst wird überprüft, ob die allgemeinen Kriterien einer Persönlichkeitsstörung erfüllt sind, es werden nur Beeinträchtigungen im Funktionsniveau der Persönlichkeit geprüft (vgl. Kasten).
|18|Allgemeine Kriterien einer Persönlichkeitsstörung nach DSM-53
Ein überdauerndes Muster von innerem Erleben und Verhalten, das merklich von den Erwartungen der soziokulturellen Umgebung abweicht. Dieses Muster manifestiert sich in mindestens zwei der folgenden Bereiche:
Kognition (d. h. die Art, sich selbst, andere Menschen und Ereignisse wahrzunehmen und zu interpretieren).
Affektivität (d. h. die Variationsbreite, Intensität, Labilität und Angemessenheit emotionaler Reaktionen).
Gestaltung zwischenmenschlicher Beziehungen.
Impulskontrolle.
Das überdauernde Muster ist unflexibel und tiefgreifend in einem weiten Bereich persönlicher und sozialer Situationen.
Das überdauernde Muster führt in klinisch bedeutsamer Weise zu Leiden und Beeinträchtigungen in sozialen, beruflichen oder anderen wichtigen Funktionsbereichen.
Das Muster ist stabil und lang andauernd, und sein Beginn ist mindestens bis in die Adoleszenz oder ins frühe Erwachsenenalter zurückzuverfolgen.
Das überdauernde Muster lässt sich nicht besser als Manifestation oder Folge einer anderen psychischen Störung erklären.
Das überdauernde Muster ist nicht Folge der physiologischen Wirkung einer Substanz (z. B. Substanz mit Missbrauchspotenzial, Medikament) oder eines medizinischen Krankheitsfaktors (z. B. nach Hirnverletzung).
Nur wenn diese Kriterien erfüllt sind, wird der entsprechende Subtypus spezifiziert (z. B. paranoid, schizoid, narzisstisch, dependent, BPS, vgl. Kasten).
Diagnostische Kriterien der Borderline-Persönlichkeitsstörung nach DSM-5 (F60.3)3
Ein tiefgreifendes Muster von Instabilität in zwischenmenschlichen Beziehungen, im Selbstbild und in den Affekten sowie von deutlicher Impulsivität. Der Beginn liegt im frühen Erwachsenenalter und das Muster zeigt sich in verschiedenen Situationen. Mindestens fünf der folgenden Kriterien müssen erfüllt sein:
Verzweifeltes Bemühen, tatsächliches oder vermutetes Verlassenwerden zu vermeiden. (Beachte: Hier werden keine suizidalen oder selbstverletzenden Handlungen berücksichtigt, die in Kriterium 5 enthalten sind.)
|19|Ein Muster instabiler und intensiver zwischenmenschlicher Beziehungen, das durch einen Wechsel zwischen den Extremen der Idealisierung und Entwertung gekennzeichnet ist.
Identitätsstörung: ausgeprägte und andauernde Instabilität des Selbstbildes oder der Selbstwahrnehmung.
Impulsivität in mindestens zwei potenziell selbstschädigenden Bereichen (Geldausgaben, Sexualität, Substanzmissbrauch, rücksichtsloses Fahren, „Essanfälle“). (Beachte: Hier werden keine suizidalen oder selbstverletzenden Handlungen berücksichtigt, die in Kriterium 5 enthalten sind.)
Wiederholte suizidale Handlungen, Selbstmordandeutungen oder -drohungen oder Selbstverletzungsverhalten.
Affektive Instabilität infolge einer ausgeprägten Reaktivität der Stimmung (z. B. hochgradige episodische Dysphorie, Reizbarkeit oder Angst, wobei diese Verstimmungen gewöhnlich einige Stunden und nur selten mehr als einige Tage andauern).
Chronische Gefühle von Leere.
Unangemessene, heftige Wut oder Schwierigkeiten, die Wut zu kontrollieren (z. B. häufige Wutausbrüche, andauernde Wut, wiederholte körperliche Auseinandersetzungen).
Vorübergehende, durch Belastungen ausgelöste paranoide Vorstellungen oder schwere dissoziative Symptome.
Die ICD-10 (Dilling et al., 2015) nennt die Kategorie „Emotional Instabile Persönlichkeitsstörung“ und unterscheidet einen impulsiven Typ (F60.30) und einen Borderline-Typ (F60.31).
Zur kategorialen Diagnostik bzw. für die Sicherung der Diagnose einer BPS können folgende Instrumente empfohlen werden (Bohus, 2019;Bohus& Lieb, 2019):
International Personality Disorder Examination (IPDE;Mombour et al., 1996),
Diagnostic Interview for DSM-4 Personality Disorders (DIPD;Zanarini& Frankenburg, 2001),
Structured Clinical Interview for DSM-5...