ANSPRUCHSHALTUNGIN DANKBARKEIT VERWANDELN
»Seien Sie anspruchsvoll!«
Fast ein Jahrzehnt warb dieSüddeutsche Zeitung mit diesem Satz für ihre Produkte. Er gibt ein typisches Lebensgefühl des frühen 21. Jahrhunderts wieder: Nun, da die Grundbedürfnisse erfüllt sind, sollen sich die Konsumenten den höheren Genüssen zuwenden. Geben Sie sich nicht mit Minderwertigem zufrieden – minderwertiger Information, minderwertiger Politik, minderwertigen Produkten. Seien Sie anspruchsvoll.
Menschen mit hohen Ansprüchen sind schwer zufriedenzustellen. »Das kaufe ich doch nicht von meinem Taschengeld!«, ruft der anspruchsvolle Junior empört, der von seinen Eltern mit einem aktuellen Smartphone und den neuesten Sneakers ausgestattet werden will. »Warum zahlt das nicht die Krankenkasse?«, maulen die Patienten. Die Versandkundin erwartet, dass das bestellte Abendkleid portofrei zurückgenommen wird, auch wenn sie es eine Party lang getragen hat.
Für die Anspruchsvollen plagt man sich, aber die Anspruchslosen liebt man.
Marie von Ebner-Eschenbach
Die deutschen Sozialgesetze regeln akribisch genau, wer worauf Ansprüche hat. Tendenz: steigend. Dies und das und noch mehr sollte der Staat leisten. Die Versicherungen sollten es auch, die Hersteller und die immer zahlreicher werdenden Dienstleister aller Art. Ist es also erstrebenswert, anspruchsvoll zu sein? Um eine ungesunde Anspruchshaltung in Dankbarkeit zu verwandeln, muss ich mir zunächst im Klaren darüber sein: Welche meiner Ansprüche sind berechtigt, legitim, und welche sind unrealistisch, ungesund oder schlichtweg unverschämt?
Auf der Suche nach der Quelle
Um dieses Dilemma rund um den Begriff »Anspruchshaltung« zu klären, lohnt sich ein Blick auf die Herkunft des Wortes. Es beruht auf dem schlichten Verb »ansprechen«, aber in einem speziellen Zusammenhang: Sie sprechen jemanden an, um ihn um etwas zu bitten. ZurSüddeutschen Zeitung sagen Sie also: Bitte geben Sie mir Artikel zu lesen, die mich herausfordern. Versorgen Sie mich mit Informationen, die besser sind als der Durchschnitt. Anspruchhaben bedeutet dabei, dass Sie die Zeitung in dieser Weise ansprechendürfen. Denn Sie bezahlen ihr etwas dafür, und zwar mehr als einer Durchschnittszeitung.
Eine Frage der Balance
In der Sozialgesetzgebung heißt dieses Gegengewicht zum Anspruch »Leistung«. Die besteht aus Zahlungen in die Rentenkasse, Steuer