PROLOG
Aufmerksamkeit ist die seltenste und reinste Form der Großzügigkeit …
SIMONE WEIL,
BRIEF AN JOË BOUSQUET, 13. APRIL 1942
Himachal Pradesh
Nordindien
In rumpelnden Zügen durchquerten wir die nordindische Ebene in Richtung Westen. Die erbarmungslose Sommerhitze hatte sich auf das Land herabgesenkt, und unsere Tage verschwammen zu einer Melange aus Staub, eng aneinander gepressten Körpern, fettigem Curry und Kinderbüchern.
„Stinkt ein bisschen“, stöhnten unsere Söhne, als der durchdringende Geruch von Schweiß und Urin mit der steigenden Temperatur immer stärker wurde.
Also gaben wir unsere Sitzplätze auf und entschieden uns, die Fahrt lieber stehend vor den offenen Waggontüren zu verbringen. Seite an Seite stemmten wir uns gegen den Wind und beobachteten die an uns vorbeifliegende Landschaft: Straßen, auf denen es vor Menschen nur so wimmelte, Ziegelsteinfabriken, Reisfelder, Wasserbüffel, Reiher, die sich in die Luft schwangen. Nachmittags, wenn die letzten glühenden Sonnenstrahlen gerade vom Himmel verschwanden, entdeckte ich dunkle Wolken, die sich am Horizont sammelten – Tag für Tag rückten sie etwas näher, ganz so, als eilten sie uns entgegen.
Doch erst, als wir die Gebirgsausläufer erreicht hatten, erlöschte die Glut. Wir befanden uns eingepfercht in einem klapprigen Bus, der hüpfend die steilen, vom Steinschlag vernarbten Gebirgsstraßen erklomm, als eine Welle kühler Luft über uns hereinbrach. Einen Moment später hämmerten schwere Regentropfen auf das Dach des Busses ein. Unsere Jungs pressten ihre Gesichter an die beschlagenen Fensterscheiben und beobachteten, wie die umliegenden Berghänge hinter dem silbernen Vorhang des Monsuns verschwanden. Die Bauern auf den Terrassenfeldern flüchteten sich unter Eichen und Kastanien, als seien sie Regenschirme, und entlang der Straßengräben beugten sich die mannshohen Hanfstauden unter dieser Sintflut.
In der früheren britischen Bergstation Manali wurden hastig Schutzplanen über die Marktstände geworfen. Hupen schrillten, Hunde bellten und Touristen in neonfarbenen Jacken flitzten zwischen Trekkingagenturen, deutschen Bäckereien und Internetcafés die Pflastersteingassen hinunter. Blickte man nach oben, wurde die Sicht auf das Weltuntergangsszenario am Himmel von einem dschungelartigen Wald aus handgemalten Schildern, Satellitenschüsseln und verknäuelten Stromkabeln versperrt. Lange bevor dieses tiefe Tal zu einem Paradies für Kiffer erkoren wurde, war es unter Hindus als Kulantapith bekannt – „das Ende der bewohnbaren Welt“.
Das war es jetzt sicher nicht mehr.
Gegen Erschöpfung und Erkältung ankämpfend, fand unsere vierköpfige Familie Unterschlupf in einer Steinhütte, die sich zwischen den verwinkelten Tempeln und niedrigen Verschlägen der Altstadt versteckte, wo Obstgärten den Blick auf nebelverhangene und von Zedern bedeckte Berghänge freigaben. Dicht an dicht lagen wir in dem einzigen kleinen Bett und lasen uns das Kinderbuch „Die Berenstain-Bären schauen zu viel Fernsehen“ vor. Danach war „Mein allerschönstes Reisebuch“ von Richard Scarry an der Reihe. Dann Bill Peets „Die Welt der Wumps“. Durch das offene Fenster sahen wir, wie der Regen immer stärker wurde.
Noch lange nachdem unsere Söhne eingeschlummert waren, arbeiteten meine Frau und ich im Licht einer nackten Glühbirne. Gewissenhaft teilten wir das Wirrwarr aus Ausrüstung und Proviant auf zwei Haufen a