: Alexandre Hmine
: Milchstraße Roman
: Rotpunktverlag
: 9783858699060
: 1
: CHF 17.80
:
: Erzählende Literatur
: German
: 240
: kein Kopierschutz
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Ein Junge mit marokkanischen Wurzeln kommt im Tessin zur Welt und wird in die Obhut einer alten Witwe gegeben, Elvezia. Die spricht Dialekt, klappert mit ihren Zoccoli durchs Haus, wärmt dem Jungen die Milch für die Ovomaltine, sie lehrt ihn das Vaterunser und näht jedes Jahr ein neues Karnevalskostüm. Bei Elvezia ist sein Zuhause. Und draußen, da wartet ein ganzes Dorf mit Schnee bis in den Frühling hinein, mit tausend Spielen auf der Piazza, einer Bude im Wald, dem Einkaufsladen, dem Fußballplatz. Als seine Mutter ihn dann das erste Mal mit nach Marokko nimmt, erwartet ihn dort eine andere Familie, die eine fremde Sprache spricht und ihn einem seltsamen Ritual unterzieht. In dem Kind regen sich erste Zweifel. Auf dem Dorffest schmeckt die Wurst nicht mehr; Schweine fressen ihre eigene Kacke, hat die Mutter gesagt. Auch irritierend, dass er plötzlich aus dem Religionsunterricht geholt wird. Und wozu nur soll er Arabisch lernen? Alexandre Hmine lässt mit starken Bildern und Momentaufnahmen eine Kindheit und Jugend vorbeiziehen, in der sich immer mehr ein Zwiespalt auftut. Zwischen zwei Welten hin- und hergerissen, droht der Heranwachsende die Balance zu verlieren, Identität und Zugehörigkeit stehen auf dem Prüfstand. Ein Entwicklungsroman unserer Gegenwart, originell erzählt und preisgekrönt.

Alexandre Hmine, geboren 1976 in Lugano, hat in Pavia Literatur studiert und unterrichtet heute Italienisch an einem Gymnasium in Lugano. Sein nun auf Deutsch vorliegender Debütroman wurde mit dem Studer/Ganz-Preis und 2019 mit dem Schweizer Literaturpreis ausgezeichnet.

Ich sehe Elvezia. Das Haar grau, nach hinten gekämmt und mit Haarspray fixiert, eng zusammenliegende, funkelnde Augen, hervortretende Halsadern. Sie trägt einen dunklen, knielangen Rock, Wollstrümpfe und Zoccoli. Sitzt krumm am Tischende. Ich sehe auch die Tante und ihren Mann dort in der Stube vor der Anrichte stehen. Sie ist schwarz angezogen. Auf ihrer Mischlingshaut glänzt Gold. Er trägt ein helles Hemd und hat eine Glatze.

Alle blicken nach unten. Sie lächeln liebevoll. Blicken zu mir auf dem Teppich. Ob ich sitze oder liege, weiß ich nicht.

Vielleicht ist es auch nur ein Foto, vielleicht hat meine Mutter es aufgenommen.

Ich sehe die Gitterstäbe des Betts, die abgeblätterte Wand, das Zimmer im trüben Licht. Es ist stickig. Der Boden knarrt unter Elvezias Zoccoli. Sie trägt ein weißes, geblümtes Nachthemd. Tritt ans Bett, nimmt das weggestrampelte Duvet und deckt mich bis zu den Schultern zu. Ich sage nichts. Rolle mich auf die Seite, schiebe die Arme zwischen die Knie und warte.

Sie krault meinen Nacken. Das mag sie, sie mag es, meine Locken unter der Handfläche zu spüren. Ich hingegen mag es, mit den Fingern über ihren Handrücken zu fahren, dem Lauf ihrer Adern zu folgen, ab und zu vorsichtig draufzudrücken.

Die Umrisse und Farben entschwinden. Ich höre Elvezia:

»Dein Wille geschehe. Wie im Himmel so auf Erden …«

Gedämpft dringen ihre Worte zu mir, vielleicht weil ich den Kopf unter die Bettdecke gezogen habe oder weil ich allmählich einschlafe. Ich kann sowohl das Vaterunser als auch das Ave Maria. In Gedanken spreche ich mit:

»Wie auch wir vergeben unseren Schuldigern …«

Ich höre sie jeden Tag. Manchmal bittet mich Elvezia, sie mit ihr zusammen aufzusagen, oft sonntags vor dem Essen, oder sie spricht sie alleine, flüsternd und mit gesenktem Kopf.

»Und führe uns nicht in Versuchung …«

Ich höre, wie der Fußboden knarrt. Wie die Bettfedern quietschen. Elvezia