»Nach drüben kommst du nur in Ketten.«
Geflügeltes Wort in Braunbabel
1
Lumpenbabel
Am Fuße Neu-Babels, vor zwei Jahren, 2304.
Zum ersten Mal seit ihrem Aufbruch sahen Gazael und Nele wieder andere Menschen, falls man bei ihnen von »Menschen« sprechen konnte. Sie befanden sich hinter grobmaschigen Zäunen – abgemagerte und bleiche Kreaturen in schmutzstarrenden Lumpen. Die meisten von ihnen hockten nur da, mitten in ihrem eigenen Unrat, und starrten stumpf ins Nichts oder wiegten sich vor und zurück.
Die zwei gigantischen Plattformen, die jeweils von einer riesigen Säule getragen wurden, hüllten dieses Elend in gnädige Schatten und brachten angenehme Kühle. Der Gestank jedoch, der von den abgetrennten Bereichen herüberdrang, raubte Nele fast den Atem.
Sie setzte zum Sprechen an, als in der Nähe ein dumpfer Schlag ertönte. Eine Staubwolke verriet, dass etwas aus großer Höhe auf den harten Sandboden gefallen war. Augenblicklich gerieten die Bleichen hinter den Zäunen in Aufruhr, hetzten wie hungrige Warane auf die Absturzstelle zu. Einer von ihnen packte das, was auch immer dort lag, und biss hinein. Ein zweiter krallte sich ebenfalls in dem Ding fest. Heisere Rufe, sogar einzelne Schreie drangen aus mehreren Kehlen, als der ganze Pulk versuchte, sich dieses rot triefende Etwas gegenseitig aus den Händen zu reißen. Erst jetzt erkannte Nele, dass es sich um eine fette Nacktratte handelte.
Erschüttert wandte sie sich ab und presste sich an Gazaels Schulter. »Wie grausam!«
»Hab keine Sorge. Wir werden den Boden verlassen und dort oben leben.« Gazael deutete auf die riesige, runde Plattform, unter der sie durchgingen. »Du verdienst Neu-Babels Sicherheit.«
Er schwieg einen Moment, bevor er sagte: »Ich habe diese Menschen schon einmal gesehen.«
»Tatsächlich?« Nele bedachte ihn mit einem überraschten Blick.
»Vor Jahren. Ich bin damals noch hergewandert, um den Neu-Babelern Waranfleisch zu verkaufen, sie zahlten reichlich. Zu der Zeit gab es keine Zäune. Der Wärter an der Säule prahlte aber schon damit, dass man dieMüllfresser aussperren will, um den Weg für die Händler und Edelsteingräber sicherer zu machen.«
»Schrecklich …«, murmelte Nele. »Wieso warst du nie wieder hier?«
»Ich gehe nicht mehr mit, seit du dich uns angeschlossen hast. Der Weg ist weit. Ich habe es dir nie gesagt, aber ich wollte nicht mehr so lange von dir fort sein. Ich weiß, wie schwer es für dich war, allein mit dem Clan zu sein.«
Er beugte sich zu ihr und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. »Meine Tapfere.«
Nele lächelte ihn an, dann wurde ihr Blick wieder von den Unseligen hinter den Zäunen angezogen.
»Du fühlst mit ihnen«, bemerkte Gazael.
»Sieh sie dir doch an, so ausgesperrt und abgeschnitten von allem! Man lässt ihnen ja gar keine Wahl.«
Gazael blieb stehen und drehte Nele sanft zu sich. »Lähme deinen Geist nicht mit solchen Gedanken. Man hat immer eine Wahl.«
Sie senkte den Blick. »Das klingt gefühllos, selbst für einen Waranjäger wie dich.«
Gazael streichelte ihr über die langen, braunen Haare. »Ich fühle mit denen, die ihr Schicksal in die eigenen Hände nehmen. So wie du es immer getan hast. Wäre deine Hartnäckigkeit nicht gewesen, wären wir jetzt nicht hier.« Er bedachte sie mit zärtlichem Blick, dann zog er sie an sich. »Ich bin stolz, dass du unseren Sohn austrägst«, murmelte er in ihr Haar.
Dann nahm er ihre Hand, und gemeinsam gingen sie im Schatten der gigantischen Plattform auf die schwarze Säule zu, die breiter und höher und verheißungsvoller war als alles, was Nele je gesehen hatte.
Neu-Babel, Westplattform, heute, 2306.
Nele erwachte am Abend aus unruhigem Schlaf. Geradezu ohrenbetäubend klapperte die Rückwand ihrer zwei mal drei Schritt kleinen Blechhütte. Sie ertrug es fast nicht mehr. Zu dieser Jahreszeit stürmte es jeden Tag wenigstens einmal in solcher Stärke. An eine Reparatur war allerdings nicht zu denken, sie hatte größere Sorgen.
Wenn es nicht der Wind war, der sie weckte, dann waren es wahlweise Durst, Hunger oder einfach die brachiale Hitze. Die Blechhütte mit den Luftlöchern an der Decke hatte Ähnlichkeiten mit dem Ofen in Toras Garküche, doch auf der Straße zu schlafen, war in dieser Gegend keine gute Idee, wenn man nicht ausgeraubt, vergewaltigt oder getötet werden wollte.
Schwerfällig tastete sie nach ihrem Solar-Minilenser, klemmte ihn ans Ohr und knipste das kleine Licht daran an. Dann zog sie ihr Hemd und die Hose aus braunem Synthoplast über – einem Stoff, der gerüchtehalber noch von Materialrollen aus der Alten Zeit stammte, die in den Kellern unterhalb Neu-Babels lagerten. Steif und unbequem wie er war, stellte er doch für die Menschen auf der Plattform der Armen, »Braunbabel« oder »Lumpenbabel« genannt, die einzige bezahlbare Möglichkeit dar, sich Kleidung anzufertigen.
Sie kratzte über ih