: William Gibson
: Mona Lisa Overdrive Roman
: Tropen
: 9783608121131
: Die Neuromancer-Trilogie
: 1
: CHF 7.10
:
: Science Fiction
: German
: 352
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
»Der Geist war das Abschiedsgeschenk ihres Vaters. Ein schwarz gewandeter Sekretär hatte es ihr in einer Abflughalle von Narita überreicht.« Die Megakonzerne streiten in der Matrix weiterhin um die neueste Technologie, doch im Hintergrund wird ein ganz anderes Spiel gespielt. Die KIs haben sich unbemerkt längst verselbstständigt und machen sie sich nun auf die Suche, nach der nächsten Stufe ihrer Existenz. Mona ist ein junges Mädchen mit einer dunklen Vergangenheit und einer unsicheren Zukunft. Als ihr Zuhälter sie an einen New Yorker Chirurgen verkauft, stellt das nicht nur ihr Leben auf den Kopf, über Nacht wird sie auch zu einer ganz anderen Person. Angie Mitchell ist eine Hollywood Sense/Net Berühmtheit mit einem sehr speziellen Talent. Und trotz aller Bemühungen ihrer Studio-Bosse sie im Dunkeln zu lassen, beginnt Angie sich zu erinnern. Bald schon wird sie herausfinden, wer sie wirklich ist ... und warum sie kein Deck braucht um in den Cyberspace einzutauchen. In der Matrix werden Pläne ins Rollen gebracht und Menschen wie Spielfiguren hin- und hergeschoben. Und hinter all dem lauert der Schatten der Yakuza, der mächtigen japanischen Unterwelt, deren Anführer Menschen und Ereignisse rücksichtslos für ihre eigenen Zwecke manipulieren. Denken sie zumindest ...

William Gibson, geboren 1948 in South Carolina, wanderte mit 19 Jahren nach Kanada aus, um der Einziehung zum Vietnamkrieg zu entgehen. 1972 ließ er sich in Vancouver nieder, wo er noch heute mit seiner Familie lebt. Bekannt wurde er mit seinem 1984 erschienenen und vielfach preisgekrönten Roman Neuromancer, in dem er erstmals den Begriff »Cyberspace« prägte. 2019 wurde ihm der Damon Knight Memorial Grand Master Award für sein Lebenswerk verliehen.

1 Smoke


Der Geist war das Abschiedsgeschenk ihres Vaters. Ein schwarz gewandeter Sekretär hatte es ihr in einer Abflughalle von Narita überreicht.

Während der ersten beiden Stunden des Fluges nach London lag es unbeachtet in ihrer Tasche, ein glattes, dunkles, rechteckiges Ding, das allgegenwärtige Logo von Maas-Neotek eingeprägt auf einer Seite; die andere war leicht gerundet, sodass es gut in der Hand lag.

Sie saß kerzengerade an ihrem Platz in der ersten Klasse. Ihre Züge waren zu einer kleinen, kalten Maske erstarrt, die dem charakteristischsten Gesichtsausdruck ihrer toten Mutter nachempfunden war. Die Plätze um sie herum waren leer; ihr Vater hatte sie ebenfalls reserviert. Sie lehnte das Essen ab, das der nervöse Steward anbot. Die freien Plätze  – Zeichen für den Reichtum und Einfluss ihres Vaters – schüchterten ihn ein. Der Mann zögerte, verbeugte sich dann und zog sich zurück. Ganz kurz ließ sie das Lächeln ihrer Mutter über die Maske huschen.

Geister, dachte sie später, irgendwo über Deutschland, den Blick auf den gepolsterten Nebensitz gerichtet. Wie gut Vater seine Geister behandelte.

Auch draußen vor den Fenstern waren Geister, in der Stratosphäre des europäischen Winters, bruchstückhafte Bilder, die sich zu formen begannen, wenn sie den Blick verschwimmen ließ. Ihre Mutter im Ueno Park, das zarte Gesicht in der Septembersonne. »Die Kraniche, Kumi! Schau, die Kraniche!« Und Kumiko schaute auf den Shinobazu-Teich hinaus und sah nichts, keine Spur von Kranichen, nur ein paar hüpfende schwarze Punkte, bei denen es sich bestimmt um Krähen handelte. Das Wasser war seidenglatt und bleigrau, und blasse Hologramme flimmerten undeutlich über einer fernen Reihe von Schießständen für Bogenschützen. Später sollte Kumiko die Kraniche jedoch oft sehen, und zwar in ihren Träumen; Origami-Kraniche, aus neonbunten Papierbögen gefaltete, eckige Gebilde, bunte, starre Vögel, die durch die Mondlandschaft des umnachteten Geistes ihrer Mutter segelten.

Sie dachte an ihren Vater mit der wilden Schar eintätowierter Drachen unter dem offenen schwarzen Gewand, zusammengesunken hinter der riesigen Ebenholzfläche seines Schreibtischs, die Augen stumpf und glänzend wie die Augen einer bemalten Puppe. »Deine Mutter ist tot. Verstehst du?« Und ringsum die Schattenflächen in seinem Arbeitszimmer, die kantige Dunkelheit. Seine Hand, die in den Lichtkegel der Lampe tauchte und zittrig auf sie deutete, wobei der Ärmel des Gewands hochrutschte und den Blick auf eine goldene Rolex und weitere Drachen mit wogenden Mähnen freigab, die kräftig und dunkel rings ums Handgelenk eingestochen waren und deuteten. Auf sie deuteten. »Verstehst du?« Sie hatte nicht geantwortet, sondern war davongelaufen und hatte sich in einem Versteck verkrochen, im Verschlag der kleinsten Reinigungsmaschinen. Die ganze Nacht tickten sie um sie herum und tasteten sie alle paar Minuten mit pinkfarben aufblitzenden Laserbündeln ab, bis ihr Vater sie suchen kam und sie, nach Whiskey und Dunhill-Zigaretten riechend, in ihr Zimmer im dritten Stock der Wohnung trug.

Sie dachte an die Wochen danach, betäubte Tage, meist in Gesellschaft des einen oder anderen Sekretärs, besonnenen Männern in schwarzen Anzügen mit automatischem Lächeln und fest zusammengerollten Regenschirmen. Einer davon, der jüngste und unbesonnenste, hatte ihr auf einem belebten Ginza-Bü